»I WAS TRYING TO FUCK WITH THE GENRE«

[Hochschule für Fernsehen und Film München | Abteilung IV, Kurs 2015 | Abgabetermin: 31.03.2021]

Inhaltsverzeichnis
  • 1. EINLEITUNG
  • 2. PRODUKTION UND VERMARKTUNG
  • 2.1 Von der Schauspielerin zur Autorin
  • 2.2 Von der Autorin zur Figur
  • 2.3 Geschlechtergrenzen 
  • 3. ANALYSE DER SERIENHANDLUNG
  • 3.1 Durchbrechung der vierten Wand
  • 3.2 Scheiternde Liebesbeziehung
  • 3.3 Transgressive Sprache
  • 4. FAZIT

»I was trying to fuck with the genre« Grenzüberschreitungen in Produktion, Vermarktung und Handlung von Fleabag

1. EINLEITUNG

Phoebe Waller-Bridges Fleabag (BBC, 2016–2019) erzählt von einer namenlosen Londoner Café-Besitzerin, die auf sexuell ausschweifende, eskapistische Art und Weise versucht, Trauer, Scham und Wut in ihrem Leben zu bewältigen. Die Hauptfigur, im öffentlichen Diskurs als »Fleabag« bezeichnet[1], widersetzt sich konstant Erwartungen in ihrem Umfeld und ist in dem Sinne nonkonformistisch. Sie ist vulgär, provokativ, ökonomisch erfolglos, einsam und ohne feste Beziehung. Fortlaufend analysiert und kommentiert sie die sie umgebende Welt in Gestalt zynischer Kommentare in direkter Ansprachen an die Zuschauer:innen. Die Durchbrechung der vierten Wand ist dabei eines der Markenzeichen der Serie. 

Im öffentlichen Diskurs über die Serie wird »Fleabag« zudem häufig mit ihrer Macherin Phoebe Waller-Bridge identifiziert. Zum einen, weil Waller-Bridge die Rolle selber spielt und zum anderen, weil sie in ihrer Selbstdarstellung viele Parallelen zu Charakterzügen ihrer Figur aufmacht und bewusst inszeniert.

In der vorliegenden Arbeit nähere ich mich der Serie und der Person Phoebe Waller-Bridge über den Begriff der Grenzüberschreitung an. Das Motiv der Grenzüberschreitung ist nicht nur innerhalb der Serie bestimmend, sondern manifestiert sich bereits in der Produktion und späteren Vermarktung von Fleabag, welche maßgeblich durch die Autorin und Schauspielerin Waller-Bridge selbst geprägt ist. Auch die Serie selbst lässt sich als Grenzüberschreitung verstehen. Zunächst möchte ich drei Formen der Überschreitung in der Produktion und Vermarktung der Serie näher betrachten: den Übergang von der Schauspielerin zur Autorin, denjenigen von der Autorin zur Serienfigur, sowie die Überschreitung von Geschlechtergrenzen, wobei es hier besonders um Aspekte der Festlegung auf bestimmte Rollenerwartungen an Waller-Bridge als weibliche Autorin und Schauspielerin geht. Im Anschluss daran werde ich drei Varianten der Grenzüberschreitung innerhalb der Serienhandlung verorten und analysieren: die Durchbrechung der vierten Wand als formales Gestaltungsmittel, die gescheiterte Liebesgeschichte in der zweiten Staffel als entscheidendes Entwicklungsvehikel der Protagonistin, sowie der Gebrauch transgressiver sexueller und fäkalbezogener Sprache. 

Methodisch stütze ich mich neben Szenenanalysen und wissenschaftlicher Fachliteratur auf Interviews mit Phoebe Waller-Bridge und Magazinartikel über oder mit ihr. Es soll nachvollziehbar werden, welche Themen die Rezension der Serie fokussiert hat – und in welcher Hinsicht diese das von Waller-Bridge gezeichnete Bild ergänzen oder konterkarieren. Ein Großteil der wissenschaftlichen und journalistischen Rezeption geht von einer feministischen Agenda Waller-Bridges hinsichtlich der Serie aus. Diese Interpretation weißt Waller-Bridge jedoch zurück und formuliert ihre ganz eigene Agenda mit dem Titelsatz dieser Arbeit: »I was trying to fuck with the genre« (The Hollywood Reporter, 2017a). Die Lust an der Revolte, an der Übertretung sprachlicher Konventionen und am Aufstand gegen die Kraft des Normativen, gegen Grenzen generell – all das ist hier bereits auf dem Plan.

Der Titel der Serie, »Fleabag«, wiederum entspringt Phoebe Waller-Bridges eigenem Spitznamen »Flea« beziehungsweise »Fleabag« und unterstreicht die Nähe zwischen ihr und ihrer Serienheldin (Malone, 2019). Das Lebewesen des Flohs eröffnet zudem einen weiteren Assoziationsraum: Flöhe haben auf den Menschen unangenehme körperliche Wirkungen, rufen starken Juckreiz hervor. Darüber hinaus können sie von Mensch zu Mensch weitergegeben werden. Neben der körperlichen Ansteckung deutet das Sprichwort »jemandem einen Floh in den Kopf setzen« auf eine mentale Übertragungsmöglichkeit eines metaphorischen Flohs, also von Ideen, verrückten Einfällen und dergleichen, hin. Flöhe hüpfen von Person zu Person und dringen in ihre Privatsphäre, ihren Körper und auch ihre Gedanken ein. In dieser Metapher ist das Motiv der Grenzüberschreitung bereits angelegt. Zu zeigen, auf welche Art Phoebe Waller-Bridge und ihre Protagonistin Fleabag diese Grenzüberschreitungen im Detail vollziehen – auf welche Weise sie ihre Flöhe in die Welt setzen (und ob diese Juckreiz auslösen) – ist die Aufgabe dieser Arbeit.  


[1] Auch in der vorliegenden Arbeit wird der Name »Fleabag« verwendet werden, um auf die Protagonistin zu rekurrieren. Die Tatsache, dass diese keinen bürgerlichen Namen trägt, darf durchaus als erzählerischer Hinweis verstanden werden. Fleabag eignet sich so besser als Projektionsfläche, sie ist als Figur dazu befähigt, nicht nur ihr eigenes Leben darzustellen, sondern als Repräsentantin von typischen Lebensschwierigkeiten einer ganzen Generation, nicht nur von Frauen, zu fungieren. Auf diese Weise changiert Fleabag im Lauf der Serie zwischen einem detailliert ausgestalteten Charakter und einem Typus als Träger weitverbreiteter Eigenschaften. 

2. PRODUKTION UND VERMARKTUNG

Phoebe Waller-Bridge schrieb Fleabag zunächst als zehnminütigen Sketch im Rahmen einer »storytelling night« (vgl. Jung, 2016) unter dem Dach ihres DryWrite Theater, dass sie mit der Regisseurin und engen Verbündeten Vicky Jones gründete. Heute zählt die Serie, die inzwischen zwei Staffeln umfasst, zu einer der erfolgreichsten Serien in ihrem jeweiligen Erscheinungsjahr. Im Jahr 2019 landete Staffel zwei auf der Liste von The Guardian der 100 besten TV-Serien des 21. Jahrhunderts (Abbott, Davies, Mumford, Harrison, & Seale, 2019) auf Platz acht. Auch der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Obama, nannte die zweite Staffel von Fleabag als eine seiner Lieblingsfernsehserien des Jahres 2019 (Lampen & Arnold, 2020). Dabei ließ er sich auch nicht davon beirren, dass es in der ersten Staffel eine Masturbationsszene zu einer seiner politischen Ansprachen gibt. Eine gewagte Grenzüberschreitung, die Obama jedoch mit Humor zu nehmen wusste. 

Die Erfolgsgeschichte der Serie ist jedoch nicht nur von inhaltlichen Wagnissen geprägt, sondern auch von Überschreitungen vermeintlicher Grenzen im Bereich der Produktion und Vermarktung der Serie. Diese betreffen etwa die Tatsache, dass Waller-Bridge als Absolventin einer Eliteschauspielschule am Ende aufgrund ausbleibender Rollenangebote selbst die Schwelle zur Autorin überschreitet, um sich ihre Rollen selbst zu schreiben. Die zweite Grenzüberschreitung besteht darin, dass Waller-Bridge in der anschließenden Vermarktung der Serie bewusst mit Charaktereigenschaften ihrer Filmfigur kokettiert. Sie überschreitet damit die Grenze zwischen Realität und Fiktion, wodurch sie das revolutionäre Potential der nonkonformistischen Serienfigur aus der Fiktion in die Realität migriert. Schließlich bespreche ich die vielfältigen Grenzgänge von Waller-Bridge in Bezug auf geschlechtergeprägte Rollenerwartungen, die sich etwa darin manifestieren, dass sie sich gegen die Zuschreibung einer feministischen Agenda wehrt, sich bis zu ihrem zwölften Lebensjahr als Junge ausgab und bis heute weigert, Persönlichkeitseigenschaften auf Geschlechterunterschiede zurückzuführen. 

2.1 Von der Schauspielerin zur Autorin

2013 starten Phoebe Waller-Bridge und Vicky Jones eine Kickstarter-Kampagne, um 3.955 £ für die Produktion eines »one-woman stage play« zu sammeln, basierend auf Waller-Bridges Stand-up-Stück (vgl. Borge, 2020). Im selben Jahr reichen sie ihr Stück mit dem Titel Fleabag auf dem Edinburgh Fringe Festival ein und werden mit dem Hauptpreis ausgezeichnet. Das Stück erlangt große Popularität und macht in der Folge durch eine Vielzahl weiterer Preise auf sich aufmerksam: »The Stage Best Solo Performer 2013«, »Off West End Award For Most Promising New Playwright 2013«, »Off West End Award For Best Female Performance 2013« und den »Critics’ Circle Award For Most Promising Playwright 2014«.

Nach einem ausverkauften Lauf in Edinburgh wird das Stück schließlich auch im Soho Theatre London aufgeführt. Dort sieht Shane Allen, der Leiter der BBC-Comedy-Abteilung, das Stück und beauftragt eine Fernsehadaption in einer Gemeinschaftsproduktion mit Amazon Prime Video (vgl. Day, 2016). Die Serie wird unter der Regie von Harry Bradbeer gedreht und im Juli 2016 zunächst auf dem vier Monate zuvor vom Fernseh- zum Internetkanal gewandelten BBC Threeplatziert. Einen Monat später wiederholt BBC Two die erste Staffel. Kurz darauf veröffentlicht Amazon Prime Video die Serie im Herbst desselben Jahres auf ihrer US-amerikanischen Plattform. »Rarely does talent as special as Phoebe Waller-Bridge appear«, äußert Amazons »Head Of Television« Joe Lewis (vgl. Barraclough, 2016). Waller-Bridge zeigt sich positiv erstaunt über die Risiko-Bereitschaft des Konzerns: »This character is very close to my heart and I’m thrilled that she gets to cause mischief on both sides of The Pond« (Barraclough, 2016).

Waller-Bridge erhielt für die erste Staffel insgesamt 15 Nominierungen und elf Auszeichnungen, darunter den »British Academy Award for Television« für die beste weibliche Comedy-Darstellung. Sie betont in der Folge mehrfach, es werde keine zweite Staffel von Fleabag geben, doch zur Freude ihrer Fans wird am 26. April 2019 doch eine zweite Staffel auf Amazon Prime veröffentlicht, sowie auf BBC One und BBC iPlayer. Die Finalstaffel toppt den Erfolg der ersten mit elf Nominierungen für den »Primetime Emmy Award«, Waller-Bridge gewinnt sechs davon (»Outstanding Comedy Series«, »Outstanding Lead Actress« und »Outstanding Writing for a Comedy Series«), zwei »Golden Globe Awards« für »Beste Fernsehserie« und »Beste Schauspielerin« sowie eine weitere Nominierung für Schauspielpartner Andrew Scott. Insgesamt erhält die zweite Staffel 28 Auszeichnungen und weitere 21 Nominierungen, die Waller-Bridge gleichermaßen als Schauspielerin wie auch als Autorin würdigen. Die Review-Website Rotten Tomatoes zeichnet zudem ein überschwänglich positives Kritiker- und Zuschauerecho beider Staffeln, welche Zustimmungswerte von jeweils 100 % erreichen (vgl. Rotten Tomatoes, 2021). 

Diese Zahlen unterstreichen den enormen Erfolg der Serie bei Zuschauerschaft wie Kritiker:innen – was durchaus bemerkenswert ist, schließlich thematisiert die Serie nicht nur unangenehme menschliche Empfindungen, ist also keine bloße Unterhaltung. Sie tut dies darüber hinaus noch auf eine sehr explizite, teils vulgäre Weise. Wie bereits weiter oben beschrieben, beinhaltet die Serie eine Reihe von Grenzüberschreitungen und birgt somit das Potential, anzuecken und zu verschrecken. Sie zwingt die Zuschauer:innen aus deren Komfortzone, indem sie ihnen die Explizitheit und die Überschreitung von gewohnten Grenzen zumutet. Emily Nussbaum von der New York Times schreibt etwa 2016 über die erste Staffel: »[T]he more painful themes of Fleabag would be difficult to absorb if it weren’t for how legitimately hilarious the show is: smutty-giggly, caustic, observant about the ugliness of both sexes, and occasionally surreal« (Nussbaum, 2016).

Tim Goodman (2016) von The Hollywood Reporter kommentiert Staffel eins als »an exceptionally creative new comedy on Amazon reveals a rising creative force in Brit Phoebe Waller-Bridge« und 2019, etwas reservierter, aber dennoch begeistert über Staffel zwei: »Phoebe Waller-Bridge’s tragicomic gem about a wayward Londoner returns to Amazon for a second season that doesn’t shine quite as brightly« (Goodman, 2019). Deborah Ross wiederum stimmt euphorische Töne an: »Ten stars for Fleabag […] and that’s out of five! […] The comedy series Fleabag, which has thus far only been shown on BBC3 online but transfers to BBC2 tonight, just gets better and better« (D. Ross, 2016). Gleichermaßen überschwänglicher äußert sie sich über Staffel zwei: 

It is extraordinary writing of the kind that makes you wonder why anyone else even bothers and doesn’t just jack it in and go stack shelves in Tesco. It is warped yet affecting. It is filthy yet elegant. It is funny yet painful (D. Ross, 2019).

Am Anfang ihrer Karriere in der Filmbranche absolvierte Phoebe Waller-Bridge ein Schauspielstudium an der renommierten Royal Academy of Dramatic Arts (RADA) in London. In einem Interview mit Backstage erzählt sie von dem Mangel an komplexen weiblichen Figuren, den sie dort erlebte: 

I had felt pressure coming out of drama school to be a sort of princess. Either like a sexy princess or a not sexy princess. That was like the two things, and, one way or another, she’s a princess, you know, no matter what the story is (Backstage, 2019).

Sie berichtet, wie sie sich beim Leiter der Akademie beschwerte und nach ihrem Abschluss ihre eigene Theater-Kompanie, das DryWrite Theatre, gründet. Im Rahmen selbstorganisierter »storyteller nights« beginnt Waller-Bridge schließlich, selbst zu schreiben, zunächst in Form zehnminütiger Kurzstücke. Ebenfalls in dem Gespräch mit Backstagebeschreibt sie ihre Motivation dafür: »It came out of a need to play someone who was complex and weird and had these multiple layers and had a persona and, then, had someone truthful underneath and had all that complexity« (Backstage, 2019).

Waller-Bridge widersetzt sich den für sie unbefriedigenden Rollenangeboten auf dem Film- und Theatermarkt, welche hauptsächlich aus passiven Frauenfiguren bestanden, indem sie selbst aktiv wird. Sie überschreitet die Grenze von der Schauspielerin zur Autorin und schreibt sich ihre Rolle selbst, was einer Selbstermächtigung gleichkommt. Während eines Auftritts bei The Hollywood Reporter beschreibt Waller-Bridge, dass sie zu Beginn ihrer Schauspielkarriere viele unbefriedigende Jobs einfach annahm, sich dabei jedoch immer sehr vorlaut über die eindimensionalen Frauenrollen beschwerte, bis sie schließlich begann, selbst zu schreiben: 

I feel the power of writing something and that control over it and being able to author a story and knowing that you are inviting an audience in with a promise that I’m gonna take you on a journey and it’s gonna be worth it. […] That was really driving me the last few years(Reporter, 2019).

Ausgehend von dem Gedanken, dass eine Reziprozität besteht zwischen Frauenstereotypen, die wir auf der Leinwand sehen, und Frauenstereotypen in unserer Gesellschaft, erscheint es im Umkehrschluss naheliegend, dass Phoebe Waller-Bridge durch das Schreiben einer außergewöhnlich unangepassten Serienfigur auch selbst von einem passiv erleidenden zu einem aktiv handelnden Subjekt avanciert. Sie tut dies sowohl als Filmfigur in der von ihr geschaffenen Geschichte als auch als Kreativschaffende im Produktionsprozess und bricht damit bestehende Normen. 

Dieser Normbruch ist zunächst dadurch ermöglicht, dass Waller-Bridge sich nicht auf die Rolle als Schauspielerin beschränken lässt, sondern die von ihr vorgefundenen Missstände in einer neuen Rolle als Autorin bearbeitet. Dies stellt die erste Form der Grenzüberschreitung dar: Phoebe-Waller Bridge schafft es, eine mehrdimensionale, unangepasste und revolutionäre Frauenfigur zu kreieren, indem sie sich im Entstehungsprozess, in ihrem Übergang von der Schauspielerin zur Autorin, selbst wie eben diese verhält. 

In einem zweiten Schritt scheint nun die Grenze zwischen ihr als Autorin und der von ihr geschriebenen Figur durchlässig zu werden. Dies steht in engem Zusammenhang mit Waller-Bridges suggestivem Auftreten in der Vermarktung der Serie, was im nun folgenden Kapitel behandelt wird. 

2.2 Von der Autorin zur Figur

In der Vermarktung der Serie bedient Waller-Bridge häufig Attribute, die ihrer Hauptfigur zugeschrieben werden. Dazu zählen ein sexualisierter, vulgärer Humor sowie die Freude am dosierten Schock. Bei einem Auftritt bei Saturday Night Live 2019 spielt sie etwa bewusst mit der Verwischung der Grenzen zwischen ihrer eigenen Persönlichkeit und der ihrer Filmfigur: »People often assume that I am like the character Fleabag simply because I wrote it: sexually depraved, falmouth and dangerous. And I always have to say to them: Yes, you are absolutely right!« (Saturday Night Live, 2019).

Für diesen Gastauftritt wurde sie 2020 für einen weiteren »Emmy Award« in der Kategorie »Outstanding Guest Actress in a Comedy Series« nominiert, was nochmals unterstreicht, wie gekonnt sie zwischen den einzelnen Rollen, zwischen sich selbst und Fleabag, changiert. Auch in vielen ihrer Dankesreden kokettiert Waller-Bridge, indem sie provokante Eigenschaften ihrer Filmfigur für sich beansprucht: »It’s just really good to know and reassuring that a dirty, pervy, angry, messed up woman can make it to the Emmys« (Academy, 2019).

Fleabag als Serienfigur erhält durch die zahlreichen humoristischen Verweise bei Preisveranstaltungen oder Interviews weitere Konturen. Waller-Bridge setzt die Entwicklung der Figur noch über die Serie hinaus fort. Auch in dieser Hinsicht findet eine Grenzüberschreitung statt: Die Schwelle zwischen der Kunstfigur Fleabag und ihrer Autorin Waller-Bridge wird durchlässig.

Dies wird auch in der Art und Weise deutlich, wie Waller-Bridge Humor einsetzt, um – ganz ähnlich wie Fleabag in der Serie – ironisierend unangenehme Wahrheiten auszusprechen. So geschehen etwa in ihrer Dankesrede für den »Emmy Award« in der Kategorie »Writing for a Comedy« 2019, wo Waller-Bridge anmerkt: »I find writing really really hard and really painful. But I’d like to say, honestly, from the bottom of my heart that the reason that I do it is this [showcasing trophy]« (Television Academy, 2019). Die Aussage scheint sarkastisch, dennoch gleichzeitig einen Gedanken aussprechend, den Filmschaffende im Verborgenen denken, aber niemals öffentlich aussprechen würden: dass sie Preise lieben. 

Indem sie, entgegen der Etikette einer solchen Preisverleihungs-Gala, bei der Entgegennahme jegliche Bescheidenheit vermissen lässt, überschreitet sie eine Grenze. Ohne die sarkastische Färbung ihres Auftritts wirkte ein solches Verhalten unhöflich oder gar unverschämt. Der Humor macht die Grenzüberschreitung erträglich. Auf diese Weise ermöglicht Phoebe Waller-Bridge, wie schon in Fleabag, die Thematisierung unangenehmer Sachverhalte mit humoristischen Mitteln. 

Die Ansprache hätte so oder so ähnlich auch von Waller-Bridges Serienheldin Fleabag stammen können. Weiter kann auch der Titel der Serie »Fleabag« als pars pro toto für diese Überschneidungen gelesen werden, denn er entspringt, wie eingangs erwähnt, Waller-Bridges Biographie: »Flea« bzw. »Fleabag« ist Waller-Bridges Familienspitzname (vgl. C. Ross, 2020). Das Verschwimmen der Grenzen zwischen der Macherin und ihrer Figur »Fleabag« nimmt einen großen Raum innerhalb der Vermarktung ein. Die Begeisterung über die Serie und ihre transgressive Hauptfigur mündete in einer Begeisterung über Phoebe Waller-Bridge selbst, die mit den Attributen ihrer Figur stark assoziiert wird und immer wieder selbst dazu beiträgt, diese Verknüpfung herzustellen. 

In einer Talk-Runde mit The Hollywood Reporter betont Waller-Bridge jedoch kontrastierend, dass ihre Serie nicht autobiographisch sei, denn sie selbst habe nicht das erlebt, was ihrer Figur in der Serie widerfährt. Die Verbindung zu Fleabag bestünde mehr in einer bestimmten Humorfarbe, die beide teilten (vgl. Reporter, 2017a). Gleichzeitig bedeutet dies nun keine Schmälerung der Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den beiden. Vielmehr unterstützt der Verweis auf den geteilten Humor die These der Seelenverwandtschaft. Gemeinsam Erlebtes kann Menschen zwar zu Schicksalsgefährten oder Leidensgenossen machen, gemeinsamer Humor allerdings verbündet auf einer charakterlichen Ebene. In einer weiteren Gesprächsrunde mit The Hollywood Reporter führt Waller-Bridge aus: 

Fleabag, that character, just comes from the depth of me (…) Fleabag says what she thinks if it is to the camera or in the action. And I am learning how to do that. I write women who don’t give a shit because I’m learning how to do that (Reporter, 2019).

Waller-Bridge stellt das Schreiben in den Kontext ihrer eigenen Persönlichkeitsentwicklung. Damit schreibt sie Fleabag eine Vorbildfunktion zu und entwirft somit ein Ideal, dem sie sich schreibend annähert. Die Autorin thematisiert in mehreren Interviews ihre Liebe zu nonkonformistischen Frauenfiguren und zu weiblicher Wut: 

When I was in my twenties, I used to have these rage flashes all the time, I would just get really, really ragey for, like, five seconds, and then it would pass. And it was always a weirdly positive feeling. I think rage can be harnessed. I find it exciting in women (Wiseman, 2018).

Sie beschreibt weiter, dass diese Wut mit einer Vorwärtsbewegung einhergeht und ihr damit die Kraft der Veränderung innewohnt (vgl. Wiseman, 2018). Diese eigene Wut findet in Fleabag ein Sprachrohr: »Fleabag was the expression of the kind of ›ahhhh‹ that came out« (Evans, 2019). Hieran wird deutlich, dass die Verbindung zwischen Phoebe Waller-Bridge und ihrer Hauptfigur vor allem eine psychologische ist. Beide teilen dieselbe Wut, denselben Humor, dieselben Ängste. 

Waller-Bridge findet schließlich im Humor eine Ausdrucksgestalt für ihre Wut. Diese verspürte sie zunächst vor allem in ihren Zwanzigern, eine Wut, die aus einer tiefen Verunsicherung über ihre Position in der Filmbranche herrührte, über ihren Körper und die Grenzen, denen sie sich als Frau ausgesetzt fühlte: »I didn’t ever want to express pure rage to people so I think it came out as jokes« (Evans, 2019). Waller-Bridge kultiviert ihre Wut und nutzt sie als Motor für ihre Figur und für sich selbst. Sie setzt sie wie ein Werkzeug ein, um Grenzen zu überschreiten und Normen aufzubrechen. Der Humor distanziert vom wutbesetzten Inhalt, macht ihn auf diese Weise erträglicher. Die Ähnlichkeiten zwischen Autorin und Figur werden besonders deutlich: Was Waller-Bridge in ihrer eigenen sozialen Umgebung zur Konfliktbewältigung anzuwenden gelernt hat, agiert Fleabag in der Filmhandlung aus.

2.3 Geschlechtergrenzen 

In einigen Interviews idealisiert Waller-Bridge transgressive Frauen und inszeniert sich gleichzeitig als eine solche. Als Indizien dafür eignen sich folgende Überschriften aus Presseartikeln: »Phoebe Waller-Bridge: ›I have an appetite for transgressive women‹« (Hattenstone, 2018) oder »Furiously Funny: Phoebe Waller-Bridge On Female Rage« (Wiseman, 2018). Auch Journalist:innen greifen diese Lesart in ihren Kritiken zur Serie auf und titeln: »Biting, Bitter and Pushing Boundaries« (Hale, 2016), »Fleabag: an original bad girl comedy« (Nussbaum, 2016). Ein Beweggrund zur Idealisierung dieses Frauentypus ist das revolutionäre Potential, das Waller-Bridge ihm zuschreibt, hier in einem Gespräch mit Decca Aitkenhead für The Guardian:

Being proper and sweet and nice and pleasing is a fucking nightmare. It’s exhausting. As women, we get the message about how to be a good girl – how to be a good, pretty girl – from such an early age. Then, at the same time, we’re told that well-behaved girls won’t change the world or ever make a splash. So it’s sort of like, well, what the fuck am I supposed to be? I’m supposed to be a really polite revolutionary? [spreads her arms and starts to laugh] It’s impossible (Aitkenhead, 2017).

Gleichzeitig lehnt sie eine feministische Lesart ihrer Arbeit konsequent ab und begeht damit in gewisser Weise einen weiteren Regelbruch. Sie ist keine »gute Feministin«, sondern lehnt die eigentlich als Kompliment gemeinte Fremdbeschreibung ab. Grenzüberschreitend daran ist die Tatsache, dass sie einer Bewegung, der sie inhaltlich zurechenbar und innerlich zugewandt ist, die öffentliche Solidarisierung verweigert. Sie möchte nicht zum Symbol einer Bewegung werden, sondern ihre Individualität einsetzen, um die Notwendigkeit einer Sonderbetrachtung überhaupt obsolet zu machen. 

Beim The Hollywood Reporter Comedy Showrunner Roundtable sitzt Waller-Bridge etwa wie selbstverständlich gemeinsam mit vier Männern und lediglich einer weiteren Frau am Interviewtisch. Die Talkshow erinnert an einen exklusiven Männertisch, an dem Waller-Bridge dennoch einen Platz beansprucht, und damit nonverbal eine Gleichberechtigung zwischen sich und ihren männlichen Kollegen herstellt. Sie überschreitet eine Grenze, indem sie nicht nur als Frau am Männertisch Platz nimmt, sondern dies zugleich ohne Inszenierung oder weitere Kommentierung, etwa in feministischem Vokabular, geschehen lässt. Das feministische Label, welches ihr Journalist:innen, eigentlich als Lob gedacht, verliehen haben, weist sie auch verbal entschieden zurück:

A lot of the time, when I was being asked about the show, it was through a prism of feminism. One that was a very important part of that show for me and the confusion the character felt, but it was like one strand in the story of this character. And there were so many other themes in it that I was grappling with and so many ways that I was trying to fuck with the genre and all of that kind of stuff. But it was always that, always that, always that, always that. And I was just sort of feeling like I was suddenly being moved into a different position. That it wasn’t so much that I was a writer, it was that I was a feminist writer (Reporter, 2017b).

In einem Interview mit The Cut geht Waller-Bridge noch einen Schritt weiter und bezeichnet die Klassifizierung ihrer Arbeit als »feministisch« als unfair. Man verknüpfe eine politische Agenda mit ihrer Arbeit, die sie nicht verfolge, und mache aus ihr damit ein »role model« wider Willen. Schlussendlich könne sie unter diesem Druck nur verlieren (Malone, 2019). 

Natürlich hat der Feminismus viele Gesichter. Auf die einzelnen Strömungen innerhalb des Feminismus soll im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht näher eingegangen werden. Zentral für meine Darstellung ist weniger die Frage, was genau Waller-Bridge unter Feminismus versteht, sondern lediglich, dass sie sich einer Eingliederung in eine politische Bewegung verweigert. Hieran zeigt sich eben das transgressive Denken von Waller-Bridge, das Grenzen dadurch aufweicht, dass die Überschreitung nicht mehr für sich beansprucht, ein erwähnenswertes Ereignis zu sein. Der Beweggrund für Waller-Bridges kreative Arbeit ist nicht die Durchsetzung politischer Positionen, sondern das Schaffen neuer Realitäten entlang persönlicher Motive. 

In einem Interview von 2019 mit NPR beschreibt Waller-Bridge entsprechend, dass sie sich bis zu ihrem elften Lebensjahr als Junge ausgab. Mit sechs Jahren rasierte sie sich den Kopf, kleidete sich als Junge und wollte fortan »Alex« genannt werden: »I remember going into Gap once when I was about seven, and the guy coming up to me when I was with my mom and said, so what does the young man want? And I was like: yes« (Gross, 2019).

Sowohl Waller-Bridges Familie als auch ihr Umfeld akzeptierten die selbstkreierte neue Persönlichkeit. Der Ausbruch aus der eigenen Gendernorm kann als weiteres Motiv der Grenzüberschreitung in Waller-Bridges Biographie und ihrer öffentlichen Selbstinszenierung gedeutet werden. Sie lehnt sich gegen die Fokussierung auf ihr Frausein auf und negiert stattdessen Unterschiede zwischen ihr und ihren männlichen Kollegen. 

Indem Phoebe Waller-Bridge demonstriert, dass die Grenzen überschreitbar sind, deutet sie auf eine weiterführende Möglichkeit hin. Durch die Überschreitung richtet sie unseren Blick auf die Grenzen selbst und zeigt, dass diese durchlässiger sind, als wir gemeinhin annehmen. Ihre Grenzüberschreitungen können damit – paradoxerweise – als Grenzauflösungen gedeutet werden. 

Wenn man so will, ist dies dann neben den in diesem Kapitel skizzierten Grenzüberschreitungen eine vierte Variante, gewissermaßen die ultimative. Denn wo gar keine Grenzen mehr sind – wo diese also auch nicht mehr überschritten werden müssen – öffnen sich Begegnungsräume, wo wir mit dem vermeintlich Unerreichbaren, dem Utopischen, zusammentreffen. 

Waller-Bridge wechselt nicht einfach die Seiten, sie steht in beiden Räumen jenseits der Grenze. Und macht dadurch fraglich, ob es diese überhaupt noch gibt. Die Grenzen verlieren die Macht, die aktuellen Gegebenheiten als faktisch und unumstößlich darzustellen. Nicht zuletzt dies erklärt das revolutionäre Potential der Serie Fleabag und ihrer Macherin Phoebe Waller-Bridge. Im folgenden zweiten Hauptkapitel will ich nun die Grenzüberschreitungen innerhalb der Serienhandlung illustrieren. Ich will damit zeigen, wie sich das bereits in Produktion und Vermarktung präsente Motiv des Grenzgangs und Grenzübertritts auch in der formalen und inhaltlichen Ausgestaltung der Serienhandlung manifestiert.

3. ANALYSE DER SERIENHANDLUNG

Wenn Phoebe Waller-Bridge mit dem Titelsatz dieser Arbeit unter anderem ausdrücken will, dass es ihr mit Fleabag darum ging, die Genreregeln auf den Kopf zu stellen, lehnt sie sich dabei auch gegen die Deutung vieler Reporter:innen auf, die dazu neigen, ihre Arbeit ausschließlich durch ein feministisches Prisma zu betrachten. Naheliegender erscheint vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen eine Betrachtung, die den Aspekt der Grenzüberschreitung in den Vordergrund rückt. Mitinbegriffen ist darin das revolutionäre Potential der Serie, Grenzen nicht nur zu überschreiten, sondern im Zuge der Überschreitung ihre Auflösung zu bewirken. 

In diesem Kapitel werde ich formale und inhaltliche Transgressionen innerhalb der Serienhandlung analysieren. Dem vorangestellt ist eine kurze Inhaltsangabe, welche den Gesamtkontext der beiden Staffeln der Serie nachvollziehbar macht. In einem Satz lässt sich resümieren, dass Waller-Bridge mit der Protagonistin Fleabag das Bild einer jungen dysfunktionalen Londonerin zeichnet, die versucht, nach dem Tod ihrer Freundin Boo die Kontrolle über ihr Leben zu behalten. Ihrem Trauma begegnet die Protagonistin mit Zynismus und einem ausschweifenden Sexleben.  

Zu Beginn der ersten Staffel lädt Fleabag die Zuschauer:innen in ihre Geschichte ein, indem sie sich mit kurzen »asides«[1] in die Kamera immer wieder direkt an sie wendet. Dabei entfaltet sich ein Spiel aus Nähe und Distanz mit der Zuschauerin, an dessen Ende die Offenlegung von Fleabags Geheimnis, ihre Mitschuld am Tod von Freundin Boo, steht: eine Erzählung über Trauer, Scham und Entfremdung. 

Eine zweite Staffel sollte es laut Waller-Bridge eigentlich nie geben, doch eine neue Idee diente Waller-Bridge schließlich als Einfallstor für eine Fortsetzung der Serie: Der Bruch der vierten Wand wird gebrochen, indem die »asides« von Fleabag von einer neu eingeführten Filmfigur bemerkt werden. »This is a love story«[2], offenbart die Hauptfigur im Intro der ersten Episode der zweiten Staffel und meint damit die Liebesbeziehung, die sich im Laufe der Staffel zwischen ihr und jener neuen Figur, ein Priester (wie Fleabag ohne bürgerlichen Namen, genannt »Priest«), entfalten wird.[3]

Auch die Beziehung zwischen Fleabag und der Zuschauer:in wird in Staffel zwei komplexer: Wir kennen bereits ihr schambesetztes Geheimnis der Verstrickung in den versehentlichen Suizid ihrer besten Freundin Boo und steigen damit auf einem anderen Niveau der Vertrautheit in die bereits etablierte Beziehung ein.

Einen Wendepunkt der zweiten Staffel stellt eine Szene der vierten Folge dar, in der Priest erstmals bemerkt, dass Fleabag sich mitten im Gespräch abwendet, um zu uns, den Zuschauer:innen, zu sprechen. Er weist sie direkt darauf hin (»You just went somewhere.«[4]), was Fleabag sichtlich vor den Kopf stößt. Bis dahin war sie offenbar im Glauben gewesen, niemand könne es mitbekommen, wenn sie sich von der Situation wegbewegt, um zu uns zu sprechen. 

Die Tatsache, dass Priest als intradiegetische Figur in der Lage ist, diesen »aside« von Fleabag zu erkennen, legt die Vermutung nahe, dass Fleabags Ausflüchte aus den Szenen nicht nur ein inszenatorisches Stilmittel sind. Vielmehr kann in Erwägung gezogen werden, dass es sich hierbei um innere Dialoge mit ihrer eigenen Psyche handelt. Die Frage des Priest lässt dadurch unsere eigene Existenz als angesprochene Zuschauer:innen vakant werden. Waren wir überhaupt je angesprochen? Das Ende der zweiten Staffel erzählt schließlich vom Ende der romantischen Beziehung zwischen Fleabag und Priest sowie ihrer sich anschließenden Abkehr von uns und damit von der Durchbrechung der vierten Wand überhaupt. 

Im Folgenden möchte ich exemplarisch drei Elemente der Grenzüberschreitung der Serienhandlung besprechen: die Durchbrechung der vierten Wand, die gescheiterte Liebesgeschichte zwischen Fleabag und Priest und das Brechen mit Sprachkonventionen durch transgressive Sprache. 


[1] Die dramaturgische Technik des »aside« meint die direkte Ansprache des Publikums durch eine Figur. Es handelt sich um ein seit Jahrhunderten gebrauchtes Mittel der Inszenierung, das klassischerweise die Funktion erfüllt, private Gedanken, die für die Handlung des Bühnenstücks bedeutsam sind, zu enthüllen (Literary Devices, 2021). 

[2] Fleabag, Staffel 2, Episode 1. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 02:08.

[3] Der Intro-Satz, der die zweite Staffel von Fleabag als Liebesgeschichte deklariert, lässt freilich Spielraum zur Interpretation. Zwar bezieht er sich auch auf die romantische Liebesbeziehung zwischen Fleabag und Priest. Gleichzeitig ist es möglich, ihn als Hinweis auf die Entwicklung von Fleabags Selbstliebe im Lauf der Staffel zu deuten oder auch als Hommage an das so prominent inszenierte Verhältnis von Fleabag mit den Zuschauer:innen.  

[4] Fleabag, Staffel 2, Episode 3. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 21:47.

3.1 Durchbrechung der vierten Wand

Die BBC bewirbt auf ihrer iPlayer-Mediathek die erste Staffel von Fleabag mit folgendem Zitat:  »Meet Fleabag. She’s not talking to all of us – she’s talking to you. So why don’t you pop your top off and come right in?« (BBC, 2021). Der Hinweis darauf, dass Fleabag zu uns, den Zuschauer:innen spricht, nimmt bereits vor dem Ansehen der ersten Seriensekunde auf eines der präsentesten Stilmittel Bezug: die Durchbrechung der vierten Wand. Sie markiert zugleich die deutlichste Grenzüberschreitung innerhalb der Erzählung: die Überschreitung der Grenze zwischen fiktionaler und realer Welt (vgl. Gibbons & Whiteley, 2020, p. 5). 

            Alber (2016, p. 203) spricht in diesem Kontext auch von einer ontologischen Ebene der Grenzüberschreitung von Narrativen. In solchen Momenten teilt Fleabag mit der Zuschauer:in kurze Kommentare, die zeigen, was sie wirklich denkt oder fühlt. Brown (2013) bringt das klamme Gefühl der unerwarteten Verbundenheit zwischen Filmfiguren und Zuschauer:innen in diesen Szenen mit der vermeintlichen Anerkennung unserer Zuschauer:innenpräsenz durch die Figuren in Verbindung. Wir werden gesehen – und dies spüren wir. 

Manchmal bestehen diese »asides« nur in einem kurzen Seitenblick oder einer Grimasse. Gleich in der Eröffnungsszene der Serie wird dieser stilistische Zug etabliert. Das erste Bild, eine Tür, sehen wir noch aus Fleabags Eigenperspektive. Die nächste Einstellung zeigt Fleabag nervös atmend. Sie versucht, sich zu beruhigen. Plötzlich verlässt sie die narrative Ebene, um sich uns zuzuwenden (vgl. Abbildungen 2–4). Sie spricht in die Kamera:

You know that feeling when a guy you like sends you a text at two on a Tuesday night asking If he could come and find you and you’ve accidentally made it out like you’ve just got in yourself so you have to get out of bed, drink a half bottle of wine, get in the shower, shave everything, dig out some Agent Provocateur business suspender belt, the whole bit, and wait by the door until the buzzer goes?[1]

Ihre Ansprache scheint sich vor allem an Frauen zu richten und evoziert damit eine geflüsterte weibliche Vertrautheit, eine gemeinsame Intimität (Woods, 2019, p. 195). Die Hauptfigur gewinnt uns als ihre Kompliz:innen. Sie eröffnet einen Raum, in dem sie sich uns im Geheimen zuwenden kann, ohne dass andere Figuren der narrativen Handlung davon Notiz nehmen. Es scheint, als dringe die Hauptfigur direkt in unser Wohnzimmer ein, als wären wir für einen kurzen Moment mit ihr alleine. 

So nimmt sie uns mit auf die Toilette, in die Badewanne und in ihr Schlafzimmer. Dort schenkt sie uns während eines One-Night-Stands mehr Aufmerksamkeit als ihrem Date und führt uns mit scharfzüngigen Kommentaren durch den sexuellen Akt.[2] Waller-Bridge bricht mit den Sehgewohnheiten der Zuschauer:innen, indem ihre Figur die Grenze der vierten Wand überschreitet und vermeintlich alles offen mit uns teilt.


[1] Fleabag, Staffel 1, Episode 1. GB 2016. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 00:07–00:38.

[2] Fleabag, Staffel 1, Episode 1. GB 2016. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 00:50–01:40.



In bestimmte Bereiche ihres seelischen Innenlebens möchte uns die Hauptfigur allerdings nicht blicken lassen. Fleabag nutzt die Durchbrechung der vierten Wand auch als ein Mittel zur Selbstinszenierung, um die Kontrolle über ihr eigenes Narrativ zu behalten. Sie bestimmt, wie wir sie sehen sollen. Wenngleich in ihrem Leben nichts in geregelten Bahnen zu verlaufen scheint – finanzielle Schwierigkeiten mit dem eigenen Café, dysfunktionales Familiengefüge, unbewältigte Trauer –, so hat sie in der Beziehung zu den Zuschauenden zunächst alles im Griff. Die Intimität zur Zuschauer:in trägt Züge eine Performance. Abbildungen 2–4Fleabag, Staffel 1, Episode 1. TC: 00:00–00:38. 

Obgleich das »aside« keine Neuerfindung Waller-Bridges ist, scheint es laut der britischen Medienwissenschaftlerin Faye Woods (2019, p. 194) derzeit einen Boom der »direct address« in aktuellen TV-Komödien zu geben:

The 2010s saw a boom in television comedies, created by, written, and starring women, that explored the bawdy and chaotic lives of protagonists who were experiencing some form of arrested development. These comedies sought to build intimate connections with their imagined audience by crossing boundaries – social, bodily and physical.

In Fleabag nutzt Waller-Bridge die Durchbrechung der vierten Wand zudem als erzählerisches Mittel, um den Kampf ihrer Hauptfigur mit Schuld und Scham zu inszenieren. Ausgehend von Woods Kommentar ließe sich dieser gestalterische Zug als ein Versuch verstehen, diese Inszenierung um den Aspekt der intimen Verbundenheit mit den Zuschauer:innen zu erweitern. Die direkte Anrede in Fleabag ist mehr als nur ein komödiantisches Stilmittel, sie wird zum unabdingbaren Werkzeug zum Vorantreiben der inneren Entwicklung der Hauptfigur. 

Auf diese Weise kreiert Waller-Bridge ein Spiel aus Nähe und Distanz mit uns Zuschauer:innen. Um diese Spielart zu illustrieren, bespreche ich nachfolgend je zwei ausgewählte Schlüsselszenen aus beiden Staffeln, in denen es zu einer Durchbrechung der vierten Wand kommt. Das Stilmittel erfährt dabei, das will ich zeigen, eine Weiterentwicklung innerhalb des Serienverlaufs. 

Die erste Szene, die ich bespreche, stammt aus der vierten Folge der ersten Staffel. Fleabag und ihre Schwester Claire besuchen das »Female Only Breath of Silence Retreat«.[1] Ihr Vater hat es ihnen anlässlich des Muttertags geschenkt. Während einer Meditation wird die Gruppe angeleitet, an etwas zu denken, das sie nicht loslässt, an einen Moment der Anspannung. In einem Flashback sehen wir in einer Nahaufnahme Frauenhände, die ein Glas Rotwein halten, während sie Gürtel und Hose eines Mannes öffnen. Ein einzelner, anschwellender Ton erzeugt Spannung und lässt vermuten, dass es sich um den Moment kurz vor einer Katastrophe handelt. 

Der Flashback bricht ab, das nächste Bild ist eine Nahaufnahme von Fleabags Gesicht. Sie zuckt zusammen, öffnet die Augen und blickt entschuldigend in die Kamera: »[N]ot for now.«[2] Damit wird deutlich, dass Fleabag Geheimnisse vor uns zurückhält. Die intime Zuwendung im Zuge der Durchbrechung der vierten Wand ist in diesem Fall mehr eine Verhinderung unserer Mitwisser:innenschaft als eine Einladung, ein Geheimnis mit ihr zu teilen. Sie verweigert den Zugriff, inszeniert aber zugleich die Verweigerung. 

Es wird an deutlich, dass Fleabag uns gegenüber nicht die volle Kontrolle hat. Auch für Fleabag besteht die Gefahr, dass sie uns etwas mitteilen könnte, das sie später bereuen würde. Das Mittel, das eigentlich der Herstellung von Intimität dient, wird in diesem Fall dazu eingesetzt, Distanz spürbar werden zu lassen. Fleabag wendet sich uns zu, um einen Schritt zurückzugehen, uns zurückzuweisen. Diese Zurückweisung ist gerade darum so spürbar, weil sie uns durch die direkte Ansprache zunächst in ihre Nähe gerückt hat.

Die eigentliche Schlüsselszene der ersten Staffel, auch mit Blick auf die Durchbrechung der vierten Wand, ist jedoch Folge sechs, die Finalfolge. In dieser Episode lüftet Schwester Claire das Geheimnis um Fleabag, welches die Hauptfigur selbst sorgsam vor den Zuschauer:innen bewahrt hatte. Am Rande der Vernissage ihrer Stiefmutter konfrontiert Fleabag ihre Schwester mit der Frage, wieso ihr Ehemann Martin und sie zusammen hergekommen seien. Nachdem Fleabag ihr nämlich erzählt hatte, dass Martin versucht hat, sie zu küssen, hatte Claire eigentlich den Entschluss gefasst, sich zu trennen, und eine Beförderung in Finnland anzunehmen. 

»What is he doing here? You are not going to Finland?«, fragt Fleabag. Claire schüttelt den Kopf und Martin taucht hinter ihr auf. Nach einem kurzen Wortwechsel mit Fleabag legt er seine Hand auf Claires Schulter. Claire erwidert: »He didn’t try to kiss you.« Fleabag ist den Tränen nahe, als sie verzweifelt versucht, Claire zu überzeugen:

Fleabag: You have to believe me.

Claire: How can I believe you?

Fleabag: Because I’m your sister.

Claire: After what you did to Boo?[3]

Wir sehen eine Nahaufnahme von Fleabags Gesicht, deren Blick voller Entsetzen erst auf Claire liegt und schließlich zwischen ihrer Schwester und der Kamera hin und her zu wandern beginnt. Ein Glockenschlag-artiger Ton markiert die Anspannung, die dieser Satz in Fleabag auszulösen scheint. 

Ihr entsetzter Blick in die Kamera wird von der oben beschriebenen Rückblende aus dem »Silent Retreat« unterschnitten: einer Nahaufnahme von Frauenhänden, die Gürtel und Hose eines Mannes öffnen. Dann sehen wir wieder Fleabags Gesicht, noch immer von Schock gelähmt. Ihr Blick wandert wieder zu Claire hinüber. Eine neue Rückblende zeigt Fleabags Freundin Boo mit tränenüberströmtem Gesicht. In einer Nahaufnahme wendet sich Fleabag ab, doch unverzüglich wechselt auch die Kameraeinstellung und ihre Abwendung endet in einer Bewegung hin zur Kamera (vgl. Abbildungen 5–9).

Fleabag scheint von der Kamera umkreist und wendet sich erneut ab, doch auch diesmal folgt ein schneller Umschnitt, sodass Fleabag erneut mit dem Gesicht zur Kamera steht. Nun wandert ihr Blick, zunehmend panischer werdend, zwischen Schwester und Kamera hin und her. In einem Flashback erzählt die schluchzende Boo schließlich: »He slept with someone else. He said—he told me he fucked someone else.«

In einem Katz-und-Maus-Spiel zwischen Fleabag und der Kamera kommen immer weitere Flashbacks, in denen wir die Beziehung zwischen Boo und einem Mann, Fleabags Affäre mit dem selbigen, und Boo, die unter Tränen ihren Plan verkündet, sich von einem Fahrrad anfahren und verletzten zu lassen, damit ihr Freund sie im Krankenhaus besuchen kommen will, weil er sich schuldig fühlt, sie ihn aber abweisen kann, um sich zu rächen.[4] Aus den vorherigen Folgen wissen wir bereits, dass dieser Plan mit Boos Tod und dem von drei weiteren Personen endet. 


[1] Fleabag, Staffel 1, Episode 4. GB 2016. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 06:02.

[2] Ebd. TC: 13:30–13:57.

[3] Fleabag, Staffel 1, Episode 6. GB 2016. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 14:29–16:20.

[4] Ebd. TC: 14:29–16:31.

Die Kamera treibt Fleabag in dieser Sequenz immer weiter in die Enge. Bei Minute 15:54 macht die Kamera einen fast sprunghaften Schritt auf Fleabag zu, diese stolpert einen Schritt zurück in den Garderobenständer an der Wand. Sie ist gefangen im anklagenden Blick der Kamera und hat damit die Kontrolle über ihr Narrativ uns gegenüber und auch über die Durchbrechung der vierten Wand verloren. Die Schuld, die sie die gesamte Staffel mit sarkastischem Humor versteckt hat, ist demaskiert. Damit markiert die Szene einen Wendepunkt in der Beziehung zwischen Fleabag und der Zuschauer:in und gleichzeitig eine Grenzüberschreitung der Konvention klassischer »asides«. Der Zuschauer ist in dieser Szene nicht nur stummer Adressat von Fleabags Ansprache, sondern blickt als umzingelnde Kamerabewegung aktiv entgegen. Er wird vom stummen Komplizen zum mobilen Anklagenden.

In der zweiten Staffel greift Waller-Bridge das Spiel mit der Zuschauer:in erneut auf und entwickelt es weiter. Zwei weitere Szenenanalysen sollen dies veranschaulichen: der nächtliche Besuch Fleabags bei Priest in Folge drei, sowie die Therapiesitzung in Folge zwei. Die in der ersten Staffel etablierten Regeln, der unausgesprochene Vertrag zwischen Fleabag und der Zuschauer:in, gerät ins Wanken, wenn die neu eingeführte namenlose Figur des »Priest« Fleabags Zwiegepräche mit uns zu bemerken beginnt. 

Fleabag und Priest unterhalten sich auf einer Bank über das Zölibat. Die beiden verbindet offensichtlich eine starke Zuneigung. Dennoch versichert Priest gegenüber Fleabag, dass sie keinen Sex haben können, er wolle ihr aber gerne ein Freund sein. Darauf wendet sich Fleabag der Kamera zu und kokettiert: »We’ll last a week.« Priest bemerkt etwas und fragt: »What was that?«. Auf mehrmalige Rückfrage Fleabags erklärt er: »You just—went somewhere.« Fleabag fühlt sich ertappt und kommentiert das Geschehen mit einem hilflosen Blick in die Kamera. 

Auch dieser wird von Priest erkannt: »There. There. Where’d you just go?« Fleabag antwortet defensiv und Priest scheint dies fürs erste zu genügen. Er lässt den Blick wieder schweifen, worauf Fleabag den Moment dazu nutzt, sich uns mit fassungslosem Blick zuzuwenden. Es ist ihr unbegreiflich, wie Priest ihre beiden Seitenblicke erkennen konnte. Die aggressive Titelmusik der Serie setzt ein und die Folge ist beendet.[1]

Indem Priest in dieser Sequenz erstmals die »asides« zwischen Fleabag und uns bemerkt, setzt er die bisher geltenden Regeln dieser Anspracheart von Fleabag außer Kraft. Denn ein klassischer »aside« verläuft unbemerkt, allen anderen Figuren der Erzählung ist der Zugang zu diesem Raum prinzipiell unmöglich. Er überschreitet die für unüberwindlich gehaltene Grenze, betritt den Rückzugsraum von Fleabag, und bringt sie dadurch aus der Fassung. Denn er hebelt die Funktionsweise von Fleabags Selbstinszenierung aus, sodass sie die alleinige Kontrolle einbüßt. Aus diesem Grund markiert die Szene eine besonders einschneidende Form der Grenzüberschreitung: Priest dringt weiter zu Fleabag vor, als sie selbst das je für möglich gehalten hätte.

Gibbons and Whiteley (2020) beschreiben, wie sich die Funktion der direkten Ansprache in Staffel zwei der Serie wandelt. Sie lokalisieren den Umschlagspunkt bereits früher, in Folge zwei der zweiten Staffel: Fleabag absolviert eine Sitzung bei einer Therapeutin, für die ihr Vater ihr einen Gutschein geschenkt hat. Nach einigen gescheiterten Versuchen der Therapeutin, zu Fleabag durchzudringen, beschreibt sie provokant ihren Eindruck: »Just a girl with no friends and an empty heart. By your own description.« 

Fleabag kontert, sie habe sehr wohl Freunde, worauf die Therapeutin erwidert: »Oh, so you do have someone to talk to?« Fleabag bestätigt, blickt in die Kamera, zwinkert uns zu, und macht ein schnalzendes Geräusch mit ihrem Mund.[2] Laut Gibbons and Whiteley (2020) legt das Zwinkern in die Kamera nahe, dass wir als Zuschauer:innen die Freunde sind, auf die sich Fleabag bezieht. Die Szene markiert damit einen Wendepunkt: Erstmalig wird innerhalb der Fiktion auf die Zuschauer:in Bezug genommen und diese:r damit in die intradiegetische Handlung integriert. 

Als die Therapeutin fragt, ob Fleabag diese Freunde häufig sehen würde, antwortet Fleabag, dass diese immer anwesend seien. Zunächst lächelt Fleabag und nickt der Therapeutin angespannt zu. Wenn sie zum zweiten »They’re always there.« ansetzt, wechselt ihr Blick zur Kamera.[3] Gibbons argumentiert ausgehend von dieser Szene, »they« sei ein distanzierendes sprachliches Mittel. Somit werde gleichzeitig Intimität zwischen der Zuschauer:in und ihr sowie Abstand zu eben dieser geschaffen. Das Wort »always« verweise zudem auf Fleabags – möglicherweise auf ihrer empfundenen Einsamkeit basierenden – unrealistischen Beständigkeitserwartung: Freunde können nicht unentwegt bei einem sein. Somit müsse die Zuschauer:in ihre Beziehung zu Fleabag neu interpretieren: Wir seien nicht länger Fleabags vertraute Gesprächspartner:innen, sondern vielmehr eine unausweichliche Persona innerhalb ihrer Psyche. 

Wir sind nicht mehr länger nur extradiegetische Vertraute, sondern auch ein intradiegetischer Charakter innerhalb der Fiktion: eine erfundene Person in Fleabags Fantasie.[4] Die Tatsache, dass die Figur des Priest in der Lage ist, Fleabags »asides« zu bemerken, unterstützt Gibbons und Whiteleys These. Priest würde in diesem Sinne gar keinen »aside« bemerken, sondern vielmehr ein Selbstgespräch. Fleabags Kommentare an die Zuschauer:in finden demnach nicht zwingend extradiegetisch statt, sondern sind in der fiktionalen Handlung verortbar. In der fiktionalen Handlung driftet Fleabag ab, als würde sie in einen kurzen inneren Monolog mit sich selbst anstatt mit der Zuschauer:in verfallen.

Waller-Bridge bricht in Staffel zwei somit die Regeln der Durchbrechung der vierten Wand, die sie in Staffel eins etabliert hat, und findet einen neuen Umgang mit dem Erzählelement, indem sie es intradiegetisch verankert. Offen bleibt dabei die Frage der Adressat:in.  


[1] Fleabag, Staffel 2, Episode 3. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC 21:36–22:12.

[2] Fleabag, Staffel 2, Episode 2. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC 14:37–17:50.

[3] ebd.

[4] Vgl. Gibbons, Do Worlds have Fourth Walls, S. 25–28.

3.2 Scheiternde Liebesbeziehung

Die zweite Form der Grenzüberschreitung, die ich näher betrachte, betrifft den Umgang mit dem Scheitern einer Liebe innerhalb des Genres der »romantic comedy«. Meine Arbeitshypothese ist, dass es sich eigentlich nur insofern um eine Liebesgeschichte handelt, als dass es um Fleabags Selbstliebe geht. So wählt sie ein »love interest«, das keines sein kann. Das Filmversprechen einer »romantic comedy« im Sinne des klassischen Hollywood-Kinos, wonach die Darstellung einer sich anbahnenden romantischen Liaison auf dessen Gelingen und das Münden in einer auf Langlebigkeit ausgerichteten Beziehung hinauslaufen soll, wird nicht eingelöst. 

Dass es sich bei dem »love interest« um einen katholischen Pfarrer handelt, bewirkt viele kleinere Momente der Grenzüberschreitung, wie etwa sexuellen Kontakt mit einem Zölibatär. Die zweite und bedeutsamere Variante des Grenzübertritts betrifft schließlich die Verschiebung des Fokus von der Liebesbeziehung zwischen Fleabag und dem Priest hin zu einem Fokus auf die Entwicklung von Fleabags Liebe zu sich selbst. Das Erreichen dieser Selbstliebe fällt am Ende mit dem Scheitern einer Beziehung zu Priest zusammen. Ein »Happy End« im Kontext der zweiten Staffel von Fleabag besteht also, entgegen der Konvention, gerade nicht im Gelingen der romantischen Zweierbeziehung, sondern in ihrem Scheitern. Dies möchte ich im Folgenden herausarbeiten und illustrieren.

Genau wie die Tragikomödie Marriage Story (Netflix, 2019) oder die irische Erfolgsserie Normal People (Hulu, BBC Three, Element Pictures, 2020) erzählt so auch die zweite Staffel Fleabag (2019) vom Ende einer Liebe. Fleabags »love interest« ist ein katholischer Pfarrer, der in Folge eins der zweiten Staffel eingeführt wird. Die Folge zeigt in kammerspielartiger Weise die Verlobungsfeier von Fleabags Vater und ihrer Stiefmutter in einem gehobenen Restaurant. Die Familie (Vater, Stiefmutter, Claire, Martin, Fleabag) sowie ein weiterer Mann sitzen am Tisch. 

Als die Familie nach einer verkrampften Willkommensansprache des Vaters die Gläser erhebt, kommentiert Fleabag in Richtung Kamera: »Don’t know who this guy is.« Nach einem kurzen Austausch zwischen der neuen Figur und der Stiefmutter über deren Fellhandtasche (»I can’t go to hell fort that, can I, Father?«) ist klar, dass es sich um den Pfarrer handelt, der die Trauung vollziehen wird. »No, not as long as you confess«, erwidert dieser und Fleabag spricht überrascht in die Kamera: »Oh God, he’s their priest.« Die Einstellung verweilt auf Fleabag, während der Pfarrer im Hintergrund seine Antwort weiterführt: »Then you have nothing to fucking worry about.« Fleabags Blick bleibt in die Kamera gerichtet und sie kommentiert weiter: »Their cool, sweary priest.«[1]

Bereits in der Exposition der neuen Figur, die wie Fleabag keinen bürgerlichen Namen erhält, wird deutlich, dass es sich um einen unkonventionellen katholischen Pfarrer handelt: Er benutzt vulgäre Ausdrücke wie »fuck you then«[2], trinkt harten Alkohol (»I’ll have a Tequila.«[3]), seine Eltern sind Alkoholiker (»Oh fun, my parents are alcoholics, too.«[4]) und er raucht (zusammen mit Fleabag). »Are you a real priest«[5], fragt Fleabag ihn im Laufe des gemeinsamen Abendessens darum mit ehrlichem Interesse. Nachdem er dies bestätigt, bleibt Fleabags Blick noch einige Sekunden ungläubig auf ihm liegen. 

Der Pfarrer erfüllt die gesellschaftlichen Konventionen, die auf ihn projiziert werden, nicht und ähnelt in dieser Eigenschaft Fleabag. Auf Martins Frage, ob es üblich sei, dass ein Pfarrer soviel Zeit mit dem zu trauenden Ehepaar verbringt, verneint dieser und erklärt, dass er neu in der Gemeinde sei und, wobei er zögert, fügt hinzu: »I guess I’m just —I’m really—I’m really fucking lonely.«[6] Damit offenbart er eine weitere Gemeinsamkeit mit Fleabag. 

Dies kann als erstes Indiz dafür gedeutet werden, dass Fleabags Selbstliebe im Zentrum der Handlung der »love story« der zweiten Staffel steht. Ihr »love interest« weist zahlreiche Gemeinsamkeiten mit ihr auf, ist ihr Ebenbild. Fleabag erscheint sich im Priest sozusagen selbst, sie blickt auf ihn wie auf ein Spiegelbild. Sich in ihn zu verlieben, hat darum im Kontext des weiteren Verlaufs der zweiten Staffel die symbolische Qualität der Entfaltung einer Selbstliebe.

Als Fleabag gerade ansetzt, in die Kamera zu sprechen, um erstaunt festzuhalten, dass ihr seit 45 Minuten niemand eine Frage gestellt hat, unterbricht der Pfarrer ihr Kameragespräch, um sich zu erkundigen, was sie beruflich mache. Fleabag ist überrascht von dieser Frage und auch Schwester Claire, Martin und ihre Stiefmutter wenden ihre Aufmerksamkeit Fleabag zu. Nach einem kurzen Moment des Schweigens am Tisch setzt Fleabag an und meint, dass sie ein Café betreiben würde.[7] Die Intervention des Pfarrers in Fleabags Zwiegespräch mit der Kamera kann als Vorahnung dafür gelesen werden, dass er sie im Laufe der Staffel aus diesem imaginierten Schutzraum herauslocken wird. 

Der Pfarrer ist eine Figur, die wie Fleabag zum Exzess neigt. In Folge drei der zweiten Staffel spricht Fleabag mit dem Pfarrer über das Zölibat und die Komplikationen, die romantische Beziehungen mit sich bringen. »It won’t bring any good«, erklärt der Pfarrer, woraufhin Fleabag scherzend einwirft: »Well, it might.“ Er lacht und erwidert: „It won’t. I’ve been there many times before I found this. Many, many times.« 

Fleabag kokettiert und fragt, wie viele Male genau. Der Pfarrer lacht sanft, hebt nach einer kurzen Pause den Blick und antwortet mit beschwörendem Ausdruck: »Many.«[8] Aus diesem kurzen Dialog zwischen den beiden lässt sich lesen, dass der Pfarrer in der Vergangenheit sexuell sehr aktiv war und diese Beziehungen ihn nicht glücklich gemacht haben. In Staffel eins haben wir Fleabag als promiskuitive Frau erlebt, die mehr die Performance des Aktes genießt als den Sex an sich. In Episode zwei äußert Fleabag in einer Therapiesitzung: »I spent most of my adult life using sex to deflect from the screaming void inside my empty heart«, und ergänzt: »although I don’t really do that anymore.«[9] Auch Fleabag versucht also, wie der Priest, davon abzukommen, Sex als Mittel der Zerstreuung und zwischenmenschlicher Anerkennung zu praktizieren. 

In einem Interview mit Miranda Sawyer anlässlich der BAFTA Awards 2019 erklärt Waller-Bridge, dass sie einen »love interest« kreieren wollte, der Fleabag nicht nur charakterlich entspricht, sondern auch ihre Erfahrung mit der Kamera spiegelt (BAFTA Guru, 2020). In der Serie wird Fleabag unentwegt von der Kamera, der Zuschauer:in, beobachtet. Die Figur des Pfarrers steht ebenfalls unter ständiger Beobachtung, nicht durch die Kamera, sondern durch Gott. Die vierte Wand, die er durchbricht, ist die Wand zu Gott. Bei ihm sucht er nach Bestätigung dafür, dass er ein guter Mensch ist und die Dinge, die er tut, richtig sind. Waller-Bridge beschreibt das Verhältnis zwischen Fleabag und der Zuschauer:in auf ähnliche Weise: »She’s constantly grappling with this need for the audience to validate her. It’s a really fraught relationship« (BAFTA Guru, 2020).

In Folge fünf, der vorletzten Folge der zweiten Staffel, scheint sich das Liebesglück für die beiden zunächst zu erfüllen. Priest besucht Fleabag nachts in ihrer Wohnung und erklärt wiederholt, er könne keine körperliche Beziehung mit ihr eingehen: »I can’t have sex with you, because I’ll fall in love with you. And If I’ll fall in love with you […] but my life will be fucked.« Fleabag dreht ihren Kopf zur Kamera und prophezeit, was kurz darauf passiert: »We’re gonna have sex.« Während des Aktes blickt Fleabag kurz in die Kamera, drückt diese dann aber entschieden runter, um mit ihrem Geliebten alleine zu sein[10] – ein erster Vorbote für den bevorstehenden Abschied von uns Zuschauer:innen ganz am Ende der Serie.

Folge sechs, die letzte Folge der Staffel und Serie, beginnt mit dem Morgen danach. Wir sehen Fleabag, die bereits vor dem Pfarrer wach ist und ihm zärtlich über den Nacken streichelt. Dieser fragt verschlafen, woran sie denkt. Fleabag setzt gerade an, als der Pfarrer sich zu ihr umdreht. Fleabag lacht verlegen. Er ermuntert sie dazu, weiter zu sprechen und sie vollendet ihren Satz: »I just can’t believe you did that.«[11] Damit untermalt sie den Regelbruch, denn die Liebesnacht für den Pfarrer darstellt. Er hat nicht nur sein Zölibat gebrochen, sondern auch die Grenze überschritten, die er die gesamte Staffel über immer wieder vor Fleabag gezogen hat: „We’re not gonna have sex.“[12]

Am Ende wird Fleabag jedoch von Priest sitzen gelassen. Er entscheidet sich für Gott und gegen eine Beziehung zu Fleabag. Die Serie folgt damit den Irrationalitäten des echten Lebens, in dem zwei Menschen, die einander lieben, trotzdem nicht beieinanderbleiben. Während in Staffel eins die Geschichte einer Frau auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit erzählt wird, erzählt Staffel zwei die Geschichte einer Frau auf der Suche. 

Durch Fleabags Vorankündigung im Intro der ersten Folge, wonach es sich um eine Liebesgeschichte handelt, ist klar, dass es sich womöglich um die Suche nach Liebe handelt und dass der Pfarrer das Ziel dieser Suche symbolisiert. In der letzten Folge wird allerdings deutlich, dass es dabei vielmehr um das Motiv der Selbstliebe geht, um einen Prozess der Ich-Werdung, den Fleabag durchläuft. 

Nach dem Hochzeitsfest von Fleabags Vater und ihrer Stiefmutter wartet sie an der Bushaltestelle. Die Bushaltestelle könnte hierbei symbolisch für eine Art Zwischenort stehen, an dem man nicht verweilt, sondern ankommt oder aufbricht. Wenig später setzt sich Priest neben sie, worauf sich ein Moment des Schweigens einstellt. Sie blicken sich stumm lächelnd an. Fleabag, vorahnend, fragt: »It’s God, isn’t it?«. Der Pfarrer ist den Tränen nahe und bejaht. Trotz dieser Zurückweisung entscheidet sich Fleabag, noch einen Schritt weiter zu gehen, und erwidert: »You know, the worst thing is—that I fucking love you.—I love you.« Als der Pfarrer zur Erwiderung ansetzt, stoppt sie ihn: »No, let’s just leave that out there just for a second on its own.«[13] Dem Pfarrer direkt ins Gesicht blickend wiederholt sie ihre Liebesbekundigung ein weiteres Mal.[14]

Sie entscheidet sich in diesem Moment, zu ihren Gefühlen zu stehen und sich nicht in den Schutz der Ironie, des Humors oder eines »aside« zu begeben, sondern sich stattdessen verletzlich zu machen und ihre Gefühle offen zu legen. Das ist ein Verhalten, das wir in dieser Zärtlichkeit noch nicht gesehen haben. In vorherigen Folgen zeigten sich Momente der Aufrichtigkeit bei Fleabag mehr in Form von emotionalen Ausbrüchen, in denen die hinter Humor versteckten Gefühle geradezu aus Fleabag herauszuplatzen schienen. 

So zum Beispiel in der ersten Folge der ersten Staffel, als sie um zwei Uhr morgens an der Tür ihres Vaters klingelt und sich ihm hilfesuchend und aufgelöst anvertrauen möchte. Sie wendet sich gerade wieder zum Gehen, als sie auf dem Absatz kehrtmacht und ein Geständnis impulshaft aus ihr herausbricht: »Oh, fuck it. I have a horrible feeling that I’m a greedy, perverted, selfish, apathetic, cynical, depraved, morally bankrupt woman who can’t even call herself a feminist.«[15]

Im Gegensatz dazu hat ihr Liebesgeständnis gegenüber dem Pfarrer an der Bushaltestelle mehr den Charakter einer bewussten Entscheidung. Der Pfarrer greift daraufhin ihre Hand und antwortet »It’ll pass.«[16] Dieser Satz ist stellvertretend für das Liebesnarrativ in Fleabag, das klassische Liebesnarrative kontrastiert, die eher die Hoffnung auf Dauer, auf ein »it’ll last«, vermitteln. Die romantische Liebe wird nicht als Lösung präsentiert, sondern als eine Gefühlsregung, die kommt und geht, die nicht von Ewigkeit ist.

Die Liebe, die Fleabag in Staffel zwei findet, und die eine Chance auf Dauer hat, ist darum die Liebe zu sich selbst. Sie wird nicht durch ihren »love interest« komplementiert, vielmehr erkennt sie ihre Eigenständigkeit. Konsequenterweise lässt Fleabag darum am Ende auch den Blick in die Kamera und damit uns Zuschauer:innen hinter sich. Als der Priest bereits verschwunden ist, beginnt Fleabag zu weinen, der Song »This Feeling« von den Alabama Shakes. Dann nimmt sie sich zusammen und blickt, untermalt von den Songzeilen »to know I’m gonna be all right«, mit einem Ausdruck zufriedener Erschöpfung in die Kamera. Als Fleabag in die entgegengesetzte Richtung davonzugehen beginnt, folgt ihr die Kamera. Fleabag bemerkt dies, wendet sich uns zu und schüttelt mit einem sanften Lächeln auf den Lippen den Kopf. Die Kamera bleibt daraufhin stehen. Nach einigen Metern dreht Fleabag sich noch einmal um und winkt uns aus der Ferne zu. Dann geht sie weiter die Straße hinunter. Es folgen Schwarzbild und Titel (vgl. Abbildungen 10–12).[17]  

Diese Sequenz verdeutlicht, dass der Abschied vom Schutzraum mit den Zuschauer:innen, der jenseits der vierten Wand liegt, kein gewaltsamer ist. Vielmehr hat er sich graduell angebahnt. Je mehr es Fleabag möglich war, zu ihren Gefühlen gegenüber Priest zu stehen, entgegen der Aussichtslosigkeit einer Beziehung, desto weniger ausgeprägt war das Bedürfnis, sich an uns zu wenden. Fleabag hat gelernt, für sich zu sein. Sie überschreitet die Grenze hin zur Eigenständigkeit, indem sie nicht länger nur Subjekt, sondern letztlich auch Objekt ihrer Liebe ist. 


[1] Fleabag, Staffel 2, Episode 1. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 03:13–05:02.

[2] Fleabag, Staffel 2, Episode 1. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 08:44.

[3] Ebd. TC: 05:26.

[4] Ebd. TC: 06:19.

[5] Ebd. TC: 10:46.

[6] Fleabag, Staffel 2, Episode 1. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 10:55.

[7] Fleabag, Staffel 2, Episode 1. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 07:44–08:07.

[8] Fleabag, Staffel 2, Episode 3. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 19:58–21:16.

[9] Fleabag, Staffel 2, Episode 2. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 15:25.

[10] Fleabag, Staffel 2, Episode 5. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 20:10–22:26.

[11] Fleabag, Staffel 2, Episode 6. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 00:00–01:08.

[12] Fleabag, Staffel 2, Episode 3. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 20:47.

[13] Fleabag, Staffel 2, Episode 6. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 21:32–23:32.

[14] Insgesamt bekundet Fleabag Priest damit dreimal ihre Liebe. Im Neuen Testament stellt dieser Dreischritt ein zentrales Scharnier in der Beziehung zwischen Jesus Christus und seinem Jünger Simon Petrus dar. Wie in der Szene zwischen Fleabag und Priest geht es auch hier um Fragen der Liebe. Zunächst verleugnet Simon Petrus dreimal, den kurz vor der Kreuzigung stehenden Jesus zu kennen (vgl. Mt. 26, 69–75). Später fragt der auferstandene Christus Petrus dreimal, ob dieser ihn liebe (Jh. 21, 15–17). Nach der dritten Liebesbekundung von Petrus belässt es Jesus dabei. Die dreifache Wiederholung gegenüber dem Priester in Fleabag unterstreicht darum auf pointierte Weise, wie ernst es ihr mit ihrer Liebe ist. 

[15] Fleabag, Staffel 1, Episode 1. GB 2016. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 20:30.

[16] Fleabag, Staffel 2, Episode 6. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 23:20.

[17] Fleabag, Staffel 2, Episode 6. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 23:45–25:59.

In einem Interview für das YouTube-Format Backstage erklärt Phoebe Waller-Bridge, wie Regisseur Harry Bradbeer sie auf die tiefere Bedeutung dieser Schlussszene hingewiesen hat: 

The only person she really needs to make peace with is herself and I thought it was the camera and then I thought it was her family and the priest, but actually he is right. She didn’t. She needs to just walk off, say goodbye to us, say goodbye to the priest and walk away with grace(Backstage, 2019).

Als Fleabag also am Ende alleine und in Würde hinfort schreitet, hat sie gewissermaßen noch eine weitere Grenze überschritten, indem sie die Rolle der Regisseurin eingenommen und der Kamera durch ihr Kopfschütteln eine Regieanweisung gegeben hat. Man könnte diesen emanzipatorischen Akt von der Kontrolle durch die Kamera auch als Annäherung zwischen der Figur Fleabag und ihrer Macherin Phoebe Waller-Bridge deuten: Die Filmfigur entscheidet, im Stile ihrer Schöpferin, dass die Serie an dieser Stelle endet, und verlässt den Transitort der Bushaltestelle, um ihren eigenen Weg zu gehen.

3.3 Transgressive Sprache

Im letzten Abschnitt dieses Kapitels möchte ich verdeutlichen, wie Waller-Bridge durch den gezielten Einsatz sprachlicher Tabubrüche Grenzen überschreitet. Insbesondere sexuelle und fäkalbezogene Sprache bilden hier das Zentrum der Betrachtung. Die Grenze, die Waller-Bridge dabei überschreitet, ist der an gesellschaftlichen Benimmregeln ausgerichtete Filter zwischen dem, was sich eine Person denkt, und dem, was eine Person öffentlich äußert.  

Das Intro der ersten Serienfolge endet, im Nachgang an einen nächtlichen Bootycall, der im Analsex gemündet hatte, mit der lakonischen Frage von Fleabag an uns Zuschauer:innen: »Do I have a massive asshole?«[1] Ihr Date hatte sich tief berührt von ihrer Bereitschaft zum Analverkehr gezeigt. Im Abspann der Episode wird die Figur als »Arsehole Guy«[2] betitelt und der Spruch »fuck me up the ass«[3] zu einem »running gag« innerhalb und auch außerhalb der Serie (vgl. etwa Waller-Bridges »acceptance speech« bei den Critics Choice Awards, 2020). 

In einem Interview mit BUILD Series beschreibt Waller-Bridge den Adaptionsprozess des Theaterstücks zu einem TV-Skript und ihre frühe Eingebung, mit welcher Szene die Serie Fleabag beginnen müsse: »When I didn’t know anything about how it’s gonna translate to the script […] I knew that I was gonna start with the massive asshole joke. I just knew, I wanna say ›in my asshole‹, I just knew« (BUILD Series, 2016). Daraus lässt sich ableiten, wie sehr dieser Eröffnungswitz den Kern der Serie trifft. Der Witz vereint in sich zwei Merkmale, die den Humor der Serie auszeichnen: sexuell konnotierter und Fäkal-Humor. Beide Humorarten stellen Tabubrüche und damit Grenzüberschreitungen dar.

Im Gespräch mit Tina Fey für die British GQ beschreibt Waller-Bridge negative Reaktionen der britischen Presse in Bezug auf die Darstellung von Sexualität in Fleabag:

The first series of Fleabag, when it came out in the UK, the British press were like, ›This is the filthiest, most overly exposed, sexually exposing show ever.‹ They made out like I was naked the whole way through. I was like, ›There is not a moment of nudity in the series.‹ I just say stuff about my arsehole straight down the barrel. I think that makes people feel so naked, but the language was more naked than the actual performance (Fey, 2019).

Die Reaktionen der Presse sind also insofern verwunderlich, als dass die Serie in ihrer Darstellung von Sexualität wenig explizit ist. Es ist die vulgäre Ausdrucksweise der Hauptfigur – der Humor der sich aus sexuellen Tabubrüchen speist –, der offenbar zu einem verzerrten Bild in der Wahrnehmung bei der Presse führte (vgl. Gross, 2019).

In einem Interview mit Terry Gross für NPR beschreibt Waller-Bridge die Empörung, die eine Szene aus Staffel eins auslöste, in der Fleabag neben ihrem schlafenden Partner zu einer politischen Ansprache von Obama masturbiert.

I cannot count on my fingers and toes how many scenes I’ve seen of, like, men on TV [masturbating] since I can remember. I mean, especially in comedy. But it just seems like this thing – that it’s just like an everyday occurrence for men. And, you know, for women, it’s this, yeah, transgressive act of, you know, of something naughty or in some cases dirty, I think. You know, the – that a woman pleasuring herself was like a deeply selfish act, whereas a man having to do it was just he had to get something off his chest or wherever else it comes from (Gross, 2019).

Die Grenzüberschreitung durch sexualisierten Humor in der Serie Fleabag steht demnach im engen Zusammenhang mit dem Geschlecht der Hauptfigur. Fleabag ist eine Frau und somit erfährt sexualisierter Humor einen ganz anderen Bewertungsrahmen als es in einer Komödie mit einer männlichen Hauptfigur der Fall wäre. Die Empörung richtet sich nicht auf den Witz als solchen, sondern auf den Witz aus dem Mund einer Frau. 

In Episode zwei der ersten Staffel erzählt uns Fleabag auf der Toilette von ihrem Verhältnis zum Sex: »I’m not obsessed with sex. I just can’t stop thinking about it. The performance of it. The awkwardness of it. The drama of it. The moment you realize someone wants your body. Not so much the feeling of it.«[4]

Es geht Fleabag beim Sex also weniger um die lustvolle Befriedigung, sondern um die Validierung von außen, darum, begehrt zu sein. Damit thematisiert sie eine Wahrheit, die hinter der gängigen Darstellungsweise von Frauen im Film als Objekt männlicher Begierde liegt. Sie verweist auf die psychischen Auswirkungen, die diese Rollenzuschreibung für Frauen und Waller-Bridge selbst hat: »Throughout a lot of my twenties, my sexual allure and power was one of the most important things about me, my currency. I did really panic and found myself just moisturizing all the time« (Malone, 2019). Waller-Bridge spricht aus, was sie denkt, sieht den Reiz ihrer Serie darin, dass Unaussprechliche zu besprechen: 

I wanted to write about a darker side of female psychology as I saw it then. Putting front and center someone who sexualized everything to the point of her own exhaustion; someone who seduced and dismissed people, chasing the affirmation of their desire then scarpering before it turned into love or rejection; someone who believed that her worth really was measured by her sexual power, and that she knew this as the truth no one else was brave enough to admit (Waller-Bridge, 2016).

Fleabag hat Sex, spricht über Sex, scherzt über Sex und nutzt dabei ihren Zynismus, um ihr gebrochenes Herz zu maskieren. Wer diese verletzliche Seite hinter all den Witzen übersieht, könnte Fleabag schnell als unsympathische Figur abtun. Phoebe Waller-Bridge kann diese Lesart selber nicht nachvollziehen: »I didn’t see her as unlikeable myself, just broken and defensive« (Waller-Bridge, 2016).

Waller-Bridge schafft nicht nur eine Enthemmung weiblicher Sexualität in Fleabag, sondern bedient sich auch des eher männlich besetzten Genres des Fäkalhumors. In Folge drei der ersten Staffel sitzt Fleabag mit ihrer Schwester auf einer Bank vor dem Grab ihrer Mutter. Fleabag beginnt das Gespräch mit der Wendung: »I did a fart the other day that was exactly like Mom’s.« Claire erfragt daraufhin eine nähere Klassifizierung des Flatus: »A door opening or a suspicious duck?«. Fleabag bejaht ersteres. Claire schlussfolgert, dass das hieße, Fleabag bekäme den Hintern ihrer Mutter. Fleabag begreift das nicht als Kompliment, sondern beschwert sich sogleich über ihren eigenen Hintern, wobei sie ergänzt, dass sich ihre Blähungen früher kraftvoller entluden hätte, heute aber sich den Weg eher zaghaft und zögerlich hinauskämpfen müssten. Claire beichtet im Gegenzug, sie habe seit drei Jahren nicht mehr gefurzt.[5]

Die Serie zeichnet Claire als perfektionistische Karrierefrau, die, ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester, ihr Leben zu kontrollieren versteht. Sie wirkt dabei steif und entkoppelt von ihrer eigenen Körperlichkeit. Orlaith Darling sieht hinter diesem Verhalten den ständigen Optimierungszwang einer neoliberalen Weltordnung. Unkontrollierte körperliche Reaktionen, wie ein Flatus, finden keinen Platz in dieser Welt:

Stringently monitoring her appearance and denying any bodily functions which might be deemed unruly, Claire epitomises the constant self-improvement, self-optimisation, and self-management demanded of the neoliberal subject (Darling, 2020, p. 3).

On Claire’s part, the idea that »I haven’t farted in about three years« speaks to the idea that Claire has internalised neoliberal need for control and selfmanagement, under which something as excessive as a fart could not be countenanced (Darling, 2020, p. 11).

Die Fäkalthematik beschäftigt die beiden Schwester auch in der dritten Episode der zweiten Staffel, als Fleabag ihre Schwester bei einem wichtigen Firmenevent mit dem Beisteuern des Caterings unterstützt. Die beiden Frauen fahren im Aufzug des Firmengebäudes, Fleabag mit Boxen voller Canapés in den Händen. Claire diktiert ihr letzte Verhaltensregeln: »These people are very important to me. So just don’t—don’t be yourself.« Kurz darauf durchbricht Fleabag die Stille im Aufzug mit einem Furz und ist sichtlich amüsiert, als sich ihre Schwester darüber aufregt. Wenige Sekunden später steigt eine Arbeitskollegin von Claire hinzu, verzieht erst angewidert das Gesicht, und sagt dann voller Entzücken: »Oh, that’s lovely.« als hätte sie ein Parfüm anstelle eines Flatus erschmeckt.[6]

Fleabags Furz könnte an dieser Stelle als olfaktorisch penetranter Protest gelesen werden: Er drängt sich gewissermaßen auf und ist unangenehm. Damit revoltiert sie gegen die neoliberale Weltordnung, die ihr zu diktieren versucht, jegliche Körperregungen zu kontrollieren und letztlich dadurch zu unterdrücken. Fleabag weigert sich, die Lebensmaximen ihrer Schwester für sich zu übernehmen. Sie ist unangepasst, stellt geltende Normen durch transgressive Verhaltensweisen in Frage. Dieses Verhalten charakterisiert sie als disruptive Figur innerhalb der Serie, die unentwegt Regeln und Grenzen unterläuft und somit die Strukturen und Gesetze der Welt, die sie bewohnt, hinterfragt und offenlegt. 

Die Revolution scheint für Waller-Bridge vor allem darin zu liegen, sich nicht durch die Meinung anderer zensieren zu lassen, sondern den sozialen Filter abzulegen. Geeignete Mittel zur Revolte stellen die Mittel der sexuellen und vulgären (Körper-)Sprache dar, weil diese besonders deutlich aus dem sonstigen Sprachduktus herausstechen. Sie stellen in dieser Hinsicht Grenzüberschreitungen dar, weil sie mit der sprachlichen Konvention brechen und weiter gehen als eigentlich erlaubt ist. Diese Tendenz zum sprachlichen Regelbruch ist eine Eigenschaft, die Fleabag bis zum Exzess kultiviert und praktiziert.  


[1] Fleabag, Staffel 1, Episode 1. GB 2016. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 02:57.

[2] Fleabag, Staffel 1, Episode 1. GB 2016. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 25:40.

[3] Fleabag, Staffel 1, Episode 1. GB 2016. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 09:23.

[4] Fleabag, Staffel 1, Episode 2. GB 2016. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 05:10–05:40.

[5] Flebag Staffel 1 Episode 3. GB 2016. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 00:33–00:55.

[6] Flebag Staffel 2 Episode 3. GB 2019. R: Bradbeer, D/A: Waller-Bridge. TC: 00:30–01:14.

4. FAZIT

Die Aufgabe dieser Arbeit war, sich der Serie Fleabag und ihrer Macherin Phoebe Waller-Bridge über den Begriff der Grenzüberschreitung anzunähern. Als Methode wählte ich dabei die Analyse ausgewählter Szenen sowie eine Diskussion von Magazinartikeln und Interviews. 

Zunächst habe ich mich dabei den Bereichen der Produktion und Vermarktung zugewandt. Phoebe Waller-Bridge wird darin als eine Grenzgängerin zwischen der Schauspielerei, der Autorinnenschaft und den Rollenkonventionen der Geschlechter gezeichnet. Bestimmendes Motiv in diesen Grenzgängen ist die Entwicklung von einem passiv erleidenden Subjekt hin zu einem aktiv handelnden: Phoebe Waller-Bridge schafft sich das kreative Umfeld und das Rollenangebot, das sie andernorts vermisst hat. Auf diese Weise schafft es Waller-Bridge, so die Pointe dieses Abschnitts, dass bestehende Grenzen permeabel werden. So gelingt ihr als junger Frau der raketenhafte Aufstieg in einer männerdominierten Branche.

            In einem zweiten Schritt habe ich mich der Serienhandlung zugewandt, um auch dort Grenzübertritte, ausagiert von der Protagonistin Fleabag, zu lokalisieren. Erstes Element war dabei die Durchbrechung der vierten Wand, die zum einen eine räumliche Überschreitung von der fiktionalen hin zur realen Welt von uns Zuschauer:innen darstellt. Zum anderen wird im Lauf der Serie jedoch Zweifel gesät, ob die Adressat:innen der »asides« wirklich wir sind. Diese intradiegetische Verankerung stellt eine spielerische Erneuerung des Stilmittels dar. 

            Anschließend habe ich besprochen, wie in der zweiten Staffel der Serie mittels einer unkonventionellen Liebesbeziehung zwischen Fleabag und Priest das Genre der romantischen Komödie neu interpretiert wird. Konventionelle Genregrenzen werden im Zuge dessen überschritten. Schließlich zeigte sich auch im Einsatz transgressiver sexueller Sprache eine weitere Variante der Grenzüberschreitung, in diesem Fall hinsichtlich der Spanne zwischen dem unzensierten gedanklichen Innenleben von Fleabag und dem öffentlichen, aber durch gesellschaftliche Normen beengten Äußerungsraum. 

Freilich ist diese Arbeit insofern limitiert, als dass die dargestellten Varianten der Grenzüberschreitung keine umfassende Auflistung aller möglichen Grenzübertritt in Fleabag darstellen. Unberührt bleiben etwa die Aspekte der geographischen und kulturellen Grenzüberschreitung im Kontext der Produktion: vom britischen Filmmarkt auf den amerikanischen durch die Videoplattform Amazon Prime und die damit einhergehende Migration von Phoebe-Waller Bridges Karriere nach Hollywood, wo sie mittlerweile neue Serien und Filme erarbeitet. 

Es wäre lohnend, dies in einer separaten Untersuchung näher zu betrachten. Auch eine systematische Befragung der Beteiligten am Set von Fleabag und eine darauf fußende Untersuchung des kreativen Prozesses während der Dreharbeiten wäre interessant. 

            Phoebe Waller-Bridge tut derweil, was sie am besten kann: Grenzen überschreiten. Nach Fleabag arbeitet sie mittlerweile an klassischerweise von Männern dominierten Genrefilmen aus dem Action- und Spionagebereich. Neben einer Neuverfilmung von »Mr. und Mrs. Smith« mit ihr in der Hauptrolle ist sie auch am Drehbuch des neuen James-Bond-Films beteiligt (Maitland, 2021; O’Connell, 2019).