EINE KAMBODSCHANISCHE BESTATTUNG, DIE NIE STATTFAND
[Universität Hamburg | Institut für Kulturanthropologie | Erscheinungsjahr: 2017]
„Wir fragten die Roten Khmer: Wenn er wirklich tot ist, wo habt ihr ihn dann begraben? Wir wollen das Grab sehen. Aber sie sagten es uns nicht. […] Ich weinte sehr. Mein Vater tat mir so leid, denn er musste sterben, ohne dass eine Bestattungsfeier für ihn möglich war.“[1]
Malis Vater verlor unter dem Roten Khmer Regime sein Leben. Sein Körper wurde nie identifiziert, eine Bestattung mit den entscheidenden buddhistischen Ritualen zur Wiedergeburt wurde nie durchgeführt. Dies bedeutet einen tiefen Einschnitt in einer Kultur, in der das Gedenken an die Ahnen eine zentrale Rolle einnimmt. Meine Arbeit betrachtet den Umgang mit dem Verlust der Erinnerungs- und Verabschiedungskultur im Zuge der Roten Khmer sowie Umdeutungen und Ersatzhandlungen dieser. Hierzu führte ich im Februar und März 2017 narrative Interviews[2] mit der in Prey Veng lebenden Mali, die ihren Vater in der Roten Khmer Zeit verloren hat. Ebenso führte ich ein leitfadenorientiertes Interview[3] mit dem leitenden Mönch sowie eine teilnehmende Beobachtung[4] in der Pagode in Prey Veng, in welcher sich ein Massengrab aus der Roten Khmer Zeit befindet, welches heute als Ort der Erinnerung und für Ersatzbestattungen dient. Außerdem führte ich narrative Interviews und eine teilnehmende Beobachtung[5] mit Ehepaar Narom und Samban, welche beide als Jugendliche das Rote Khmer Regime erlebt hatten. Narom war als 14-Jährige dazu verpflichtet die Körper der Toten von einem Ort zum anderen zu tragen. Die Auswertung meines erhobenen Materials führte ich nach dem von Fritz Schütze und Martin Schmeiser beschriebenen narrativen[6] und biographischen[7] Verfahren durch. Die privaten Tragödien nutze ich in dieser Arbeit als Fallstudien innerhalb des weiteren Blickes auf Erinnerungskultur und Gedächtnislandschaft in Kambodscha. Norbert Fischers Studie zu „Gedächtnislandschaften in Geschichte und Gegenwart“[8], in welcher er auf materialisierte Gedächtniskultur und deren räumlich, symbolische Verdichtung eingeht, liefert mir einen Analysezugang zu meiner Arbeit.
Während des Roten Khmer Regimes von 1975 bis 1979 kam fast ein Drittel der Kambodschaner ums Leben. Ein solches „serialisierte[s] Sterben“[9] hinterließ Spuren im öffentlichen als auch privaten Raum. Narom musste als 14-jährige die Körper der Verstorbenen forttragen. Dieser erzwungene Umgang mit den Toten führte bei ihr zu einer posttraumatischen Belastungsstörung, wodurch sie sich nichts mehr merken und nie mehr Lesen und Schreiben konnte. Im Interview beschreibt sie als besonders schlimmes Erlebnis, die Körper wegzutragen ohne ihnen jegliche Bestattungsrituale zu ermöglichen – sie fühle sich verantwortlich, dass die Verstorbenen womöglich nie ihr Seelenheil finden konnten. Viele der damals Verstorbenen konnten keine Bestattung erleben und die Angehörigen wissen nichts über den Todesort der Verstorbenen. „Wir haben psychologische Probleme deswegen, denn wir wissen nicht, wessen Knochen es sind.“[10] Entscheidend in dieser Problematik ist die buddhistische, eng an das Karma geknüpfte Vorstellung, das Seelenheil der Verstorbenen auch nach deren Tod befördern zu können, wie es auch in Europa in der „altgläubig-mittelalterlichen Vorstellungswelt“[11] der Fall war. Die Rituale der Bestattung mit zahlreichen Essensgaben an die Verstorbenen spielen eine entscheidende Rolle in der Aufwertung des Karmas der Verstorbenen. Können diese Rituale nicht vollzogen werden, stellt dies in der Glaubensvorstellung eine tiefgehende Problematik dar. Entscheidend für den Vollzug der Abschiedszeremonien sind die Knochen der Verstorbenen, denn über diese werden Fürbitten für das nächste Leben und die Wiedergeburt des Verstorbenen übermittelt. Bei einer traditionellen Trauerfeier werden nach der Verbrennung die Überreste aus dem Feuer geholt. Gesicht und Körper werden nachgelegt – Zwei Ringe als Augen, ein Ring als Bauchnabel. Die Familie versammelt sich um die Knochen. Die Mönche und der Bestattungshelfer beginnen mit dem Gebet: „Im nächsten Leben wirst du schön sein.“ Mit einem Kamm streicht er durch ihre imaginären Haare. „Ja, so schön wirst du sein“, stimmt die Familie liebevoll in das Gebet mit ein.[12]
Ohne diese Verabschiedungs-Zeremonien durch Familienangehörige können die Verstorbenen in der Jenseitsvorstellung des Buddhismus kein Seelenheil erlangen, was sich in einem Ritual für „Geister ohne Familie“[14] deutlich zeigt. Neben den Essensgaben an die verstorbenen Familienmitglieder wird auch Essen außerhalb des Hauses für diese Geister hingestellt. Denn nach der Glaubensvorstellung können Verstorbene ohne Familie, denen in Bestattungs- und Verabschiedungszeremonien keine Opfergaben gebracht werden können, nicht wiedergeboren werden und „schweben somit ewig umher“[15]. Diese Geister können in dieser Vorstellung nicht in die Häuser kommen, weshalb ihnen Essen nach draußen gestellt wird. Hierbei zeigt sich deutlich, dass Menschen ohne Abschieds- und Beerdigungszeremonie der Familie in der Glaubensvorstellung keine Wiedergeburt erleben können. Somit stellen die nicht-möglichen Abschiedsrituale für Rote Khmer Opfer eine Problematik für die Familienmitglieder dar.
Im Lebensmittelpunkt einer kambodschanischen Familien finden sich an zentralen, sichtbaren Stellen des Hauses, Gartens und Eingangsbereichs Altare mit Bildern und Urnen von verstorbenen Familienmitgliedern. Hierbei gehen Bestattungs- und Erinnerungsort meist miteinander her, denn die Überreste der Knochen sowie die Asche werden in diesem Altar aufbewahrt.
Mali, die ihren Vater im Roten Khmer Regime verloren hat, baute auf ihrem Grundstück einen Altar mit der Urne ihrer später verstorbenen Mutter und ihrer zwei Brüder auf. Für ihren Vater dient dieser Altar jedoch nur als Erinnerungsort mit Bild des Vaters und nicht, wie sie sich wünscht, als Bestattungsort.
„Nach der Befreiung vom Roten Khmer Regimes 1979 wollten wir seine Knochen holen, aber wir wussten nicht, wo sein Grab ist. Alles, was ich noch von meinem Vater habe, ist ein Bild, das ich während der Khmer Rouge Zeit unter meinen Kleidern versteckt hielt. […] Mein größter Wunsch wäre, auch die Knochen meines Vaters zum Altar stellen zu können.“[17]
Ein kambodschanischer Archäologe in der Schweiz hörte diesen Wunsch vieler Khmer und begann erste DNA-Analysen der Roten Khmer Opfer. Doch bisher fehlt das Geld für ein Fortführen der aufwendigen Prozedur. Die im privaten Raum kreierten Orte materieller Trauerkultur können für viele Menschen auf Grund der fehlenden Knochen und Asche der Roten Khmer Opfer nicht hergestellt werden. Somit findet die Verräumlichung von Trauer und Erinnerung an die Verstorbenen des Roten Khmer Regimes vermehrt im segregierten Raum der Pagode statt. In der Pagode der Prey Veng Provinz in Kambodscha zeigt mir der leitende Mönch ein Massengrab mit tausenden von Schädeln aus dem Khmer Rouge Regime, das heute als Erinnerungs- und Gebetsort dient. Diese Erinnerungsstätte in Form eines Bestattungshauses spielt eine entscheidende Rolle im Verabschieden als auch im kollektiven Erinnern an die Opfer. Neben der gesellschaftlichen Erinnerungskultur, auf welche ich im nächsten Abschnitt weiter eingehe, stellt das Bestattungshaus in der Pagode in Prey Veng einen langzeitlichen Ort der Trauer und Trauma-Bewältigung einzelner dar. Der leitende Mönch der Pagode beschreibt dieses Erinnerungsstätte als Ventil, um die nicht möglich gewordene Trauer- und Bestattungsrituale für im Roten Khmer Regime verstorbene Familienmitglieder umzusetzen. Häufig kämen Angehörige von Verstorbenen, versuchen Ersatzbestattungen und Opfer-Rituale durchzuführen, rufen die Namen der Verstorbenen im Gebet, um deren Karma aufzuwerten.[18]
„Wir machen diese Zeremonie, um ihm etwas zu opfern. Wenn sein Karma nicht gut genug ist, kann er nicht wiedergeboren werden. Daher machen wir die Zeremonie, um sein Karma aufzuwerten. Wichtig ist bei den Zeremonien, den Namen des Verstorbenen zu nennen, damit dieser die Opfergaben bekommt.“[19]
Somit finden an diesem Erinnerungsort Verabschiedungen statt, wenn keine traditionelle Verabschiedung wie eine Bestattung möglich war. Der Erinnerungsort dient somit für Ersatzhandlungen der Trauer- und Verabschiedungskultur und hat gleichzeitig in seiner Öffentlichkeit eine solidaritätsstiftende Wirkung. Besonders am Volkstrauertag „Phcum Ben“ spielt dieser Ort eine entscheidende Rolle. Dabei werden Reisbälle in die Pagode geworfen, um sie den Verstorbenen als Essen zu opfern. Hierbei handelt es sich um Rituale mit hoher symbolischer und religiöser Bedeutung. Die sonst innerhalb des alltäglichen Lebens und der Familie vorzufindenden Gedenkorte werden über Erinnerungsmahle, welche für Ersatzbestattungen genutzt werden, in das öffentliche Leben geholt und Teil einer Erinnerungslandschaft. Landschaft fasse ich hierbei als bedeutungsgeladene, Verknüpfungen herstellende Wahrnehmung von Räumen.[20] In Kambodscha lässt sich ein symbolisch verdichtetes Gedenken an die Verstorbenen auffinden, welches in einer religiösen Gedächtnis- und Erinnerungslandschaft im privaten Raum aber auch im öffentlichen Raum wie der Pagode Ausdruck findet.
Das Massengrab in Form eines Bestattungshauses in der Pagode in Prey Veng befindet sich im sehr häufig besuchten öffentlichen Bereich der Pagode und formt somit eine erinnerungsstiftende als auch erinnerungsformende konkrete, materielle Spur des Krieges im öffentlichen Raum, wie Norbert Fischer sie beschreibt[21]. Aufgebaut wurde das Bestattungshaus durch kambodschanische, in Amerika lebende Sponsoren am zentralen Weg der Pagode, was dessen symbolische Bedeutung betont.
Der Aufbau dieses Bestattungshauses stellt eine intentionale Form des Erinnerns dar, welche sich die Pagode und der leitende Mönch später angeeignet haben, indem sie regelmäßig einheimische als auch ausländische Gäste dorthin führen. Ähnlich wie die bekannten Killing Fields in Phnom Penh geht dieser Erinnerungsort mit dem Tourismuskonzept einher, in welchem er bewusst als Gedächtnislandschaft für die Geschichte der Roten Khmer genutzt wird. Die Killing Fields stellen einen segregierten Raum dar, welcher stellvertretend für die Felder in verschiedenen Provinzen stehen, auf welchen Menschen zu Feldarbeit gezwungen und umgebracht wurden. Spezifische Geschichten von einheimischen LehrerInnen als auch ausländischen JournalistInnen mit individuellen Lebensläufen stehen innerhalb dieser musealen, begehbaren Feldlandschaft stellvertretend für die allgemeine Geschichte des Landes.[23] Dabei werden eingeschrieben in die klassische Natur- und Agrikulturlandschaft verdichtet Elemente des serialisierten Sterbens aufgezeigt, wie Bäume, an denen Babys über Schläge an die Bäume ermordet wurden.[24] In dieser Gedächtnislandschaft eines Agrarfeldes wird somit die Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge gelenkt und diese über an das Regime erinnernde individuelle Geschichten symbolisch als Erinnerungsobjekt erhöht. Diese Gedächtnislandschaft der Killing Fields ebenso wie die Massengrabstätte in der Pagode stellen somit einen speziellen Raum für gesellschaftliches Gedächtnis und öffentliche Erinnerungskultur dar, welche an zentralen Orten der Stadt und der Gesellschaft über bedeutungsgeladene Objekte ihre Materialisierung finden und Ersatzhandlungen für traditionelle Verabschiedungen und Trauerrituale ermöglichen.
[1] Mali, Interviewtranskript 2, 2017
[2] Vgl. Fritz Schütze. Sozialwissenschaftliche Prozessanalyse: Grundlagen der qualitativen Sozialforschung. In W. Fiedler & H.-H. Krüger, Studien zur qualitativen Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung. Leverkusen: Budrich Barbara 2016.
[3] Michael Meuser & Ulrike Nagel. ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht. In D. Garz & K. Kraimer (Hrsg.) Qualitativ-empirische Sozialforschung: Konzepte, Methode, Analysen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 441-471.
[4] Vgl. Robert M. Emerson, Racherl I. Fretz & Linda L. Shaw. In the Field: Participating, Observing, and Jotting Notes. In R. M. Emerson, R. I. Fretz & L. L. Shaw (Hrsg.), Writing Ethnographic Fieldnotes. Chicago: The University of Chicago Press 1995, S. 17-20.
[5] Vgl. ebd.
[6] Vgl. Fritz Schütze. Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung: dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen. In A. Weymann (Hrsg.), Kommunikative Sozialforschung: Alltagswissen und Alltagshandeln, Gemeindemachtforschung, Polizei, politische Erwachsenenbildung. München: Fink 1976, S. 159-260.
[7] Vgl. Martin Schmeiser. Biographische Agenda und biographische Anamnese. In M. Schmeiser (Hrsg.), Missratene Söhne und Töchter: Verlaufsformen des intergenerationellen sozialen Abstiegs in Akademikerfamilien. Tübingen: UVK 2003, S. 59-64.
[8] Norbert Fischer (Hrsg.). Gedächtnislandschaften in Geschichte und Gegenwart. Kulturwissenschaftliche Studien. Wiesbaden: Springer 2016.
[9] Vgl. Norbert Fischer. Gedächtnislandschaften des Krieges. In N. Fischer (Hrsg.), Gedächtnislandschaften in Geschichte und Gegenwart. Kulturwissenschaftliche Studien. Wiesbaden: Springer 2016, S. 37.
[10] Samban, Interviewtranskript 6, 2017
[11] Vgl. Norbert Fischer. Das materialisierte Jenseits: Tod, Trauer und Landschaft. In N. Fischer (Hrsg.), Gedächtnislandschaften in Geschichte und Gegenwart. Kulturwissenschaftliche Studien. Wiesbaden: Springer 2016, S. 19.
[12] Beobachtungsprotokoll 5, 2017
[13] Bild entstanden im Rahmen der Teilnehmenden Beobachtung 5, 2017
[14] Samban, Interviewtranskript 6, 2017
[15] Samban, Interviewtranskript 6, 2017
[16] Bild entstanden im Rahmen der Teilnehmenden Beobachtung 3, 2017
[17] Mali, Interviewtranskript 2, 2017
[18] Vgl. Mönch, Interviewtranskript 4, 2017
[19] Samban, Interviewtranskript 7, 2017
[20] Vgl. Norbert Fischer (Hrsg.). Gedächtnislandschaften in Geschichte und Gegenwart. Kulturwissenschaftliche Studien. Wiesbaden: Springer 2016.
[21] Vgl. Norbert Fischer (Hrsg.). Gedächtnislandschaften in Geschichte und Gegenwart. Kulturwissenschaftliche Studien. Wiesbaden: Springer 2016.
[22] Bild entstanden im Rahmen der Teilnehmenden Beobachtung 5, 2017
[23] Vgl. Norbert Fischer. Landschaft – Geschichte – Gedächtnis: Zur Einführung. In N. Fischer (Hrsg.), Gedächtnislandschaften in Geschichte und Gegenwart. Kulturwissenschaftliche Studien. Wiesbaden: Springer 2016, S. 9-18.
[24] Vgl. Beobachtungsprotokoll 8, 2017