DREI ELTERNTEILE SIND EINER MEHR ALS ZWEI
[Universität Hamburg | Institut für Kulturanthropologie | Erscheinungsjahr: 2018]
„An der Anzahl der Elternteile zu rütteln wäre eine Revolution.“ (Der Spiegel 32/2015, S. 16)
Gesetzlich ist es in Deutschland nicht möglich, drei Elternteile zu haben, doch Anita, Renate und Nick leben es in der Realität. Am ersten Geburtstag von Sohn Sven sind drei Großelternpaare bei der Feier dabei. Der Weg dahin war weit. Anita erzählt von sieben schwierigen Jahren bis zur Realisierung ihres Kinderwunsches und Familienlebens, in denen sie sich oft gefragt hat: „Macht das eigentlich alles noch Sinn? Aber du möchtest dieses Kind und du bleibst halt dran.“ (Interviewtranskript 11, 2016).
Kinder, die wie Sven durch private Samenspende entstanden sind oder in Patchwork-Familien leben, haben häufig mehr als zwei soziale Elternteile. Entscheidungen zu diesen neuen Familienformen seien solche, „die sich Politiker nicht zu treffen trauen“ (Der Spiegel 27/2016, S. 59), die Regierung sei „überfordert“ (Der Spiegel 32/2015, S.14) und die CDU habe anderen Parteien den „Kulturkampf angesagt“ (Süddeutsche Zeitung 175/2016, S. 2). Elternsein muss laut der Ethikrat-Vorsitzenden Woopen auf zwei Elternteile beschränkt sein, da sonst „die Gesellschaft in der Frage, was Familie ist, prinzipiell verunsicher[t]“ werden könne (Der Spiegel 32/2015, S. 16). Betrachtet man diesen politischen und medialen Diskurs um neue Familienformen mit Michel Foucaults (2005) Ansatz der Diskursanalyse wird deutlich, dass die traditionelle Elternschaft mit Vater und Mutter als normale, selbstverständliche Form innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung wahrgenommen und gefiltert wird. Über ethisch-rechtliche Regulierungen schreibt sich diese Normalität fest und wird naturalisiert, sodass die soziale Konstruktion von Verwandtschaft, wie sie das Konzept des Doing Kinship beschreibt, unsichtbar wird. Bereits die Frage nach der Herstellung und Erweiterung von Verwandtschaftskategorien ruft Irritationen und Verunsicherung hervor, wie im oben gezeigten medialen Diskurs sichtbar wird.
Das Konzept des Doing Kinship in der Kulturanthropologie begreift Verwandtschaft als Resultat einer Vielfalt von Handlungen in sozialen Situationen und legt seinen Fokus damit auf das Machen (Doing) von Familie. Dieses Herstellen von Verwandtschaftszugehörigkeit, wie es jede Familie betrifft, wird durch neue Familienformen weniger verändert, vielmehr werden in ihrer Neuheit die Handlungsweisen des Herstellens hervorgehoben (vgl. Faubion, 2001; Gildemeister, 2008; Knecht, 2007). Meine Forschung begleitet zwei Familien mit drei sozialen Elternteilen in der hauptsächlich pränatalen Planungs- und Realisationsphase ihrer Familien. Es handelt sich um zwei lesbische Paare, die zusammen mit dem genetischen Vater Eltern für ihr Kind sein wollen. Für die von den Familien gelebte Familienallianz der Dreielternschaft gibt es in Deutschland keine rechtliche und gesellschaftlich anerkannte Form, sie stellt einen sowohl gestaltungsnotwendigen als auch begrenzten Raum dar (Knecht, 2007).
Besonders im Hinblick auf Elternschaft sind Aktivitäten des Doing Kinship entscheidend von Aktivitäten der Sorge geprägt (Borneman, 2001). Denn gesetzlich ist Elternschaft als Recht und Pflicht der elterlichen Sorge für das Kind formuliert. In Deutschland können nur zwei Eltern dieses Sorgerecht innehaben, das eine Person als Elternteil mit bestimmten Handlungsanweisungen klassifiziert, sowie dessen Anerkennung vor Dritten gewährleistet (BGB § 1626-1698b, 2018). Gleichzeitig verläuft die Umsetzung dieses Sorgerechtes bei einem lesbischen Paar über das langwierige Verfahren der Stiefkindadoption durch die zweite Mutter (Familienanwältin Lünsmann, Beobachtungsprotokoll 9, 2016). Hierbei greifen rechtliche Regulierungen des Fürsorge-Staates in die Möglichkeiten und Grenzen der Elternschaft direkt ein. Über das thematische Konzept der Sorge zeige ich in meiner Arbeit die Produktion und Aushandlung von Elternschaft und Familie im Raum der rechtlich und gesellschaftlich nicht anerkannten Dreielternschaft auf. Wie kennen sich Personen untereinander als Verwandte an und welche Verwandtschaftsvorstellungen beeinflussen diese Familienherstellung? Welche Rolle spielt elterliche Sorge in der Legitimierung der Dreielternschaft und wie wird diese von ethisch-rechtlichen Regulierungstechnologien geformt?
Entscheidend in meinen Erhebungen war, die Aushandlungen und Beziehungsdynamiken von zwei Familien mit drei Elternteilen im Vorhinein der Umsetzung und Verrechtlichung der Familiengründung und Elternschaft zu beobachten. Über drei Jahre begleitete ich die Akteursfamilien in einer gegenwartsbezogenen Perspektive einer multitemporalen Ethnografie über Zeit und Raum (vgl. Gluckmann, 1940). Das Erlebte und dessen Deutung wurden in direkter Nähe zum Ereignis von den AkteurInnen in zeitversetzten Interviews erzählt und über teilnehmende Beobachtungen von mir miterlebt. Diese zeitliche Unmittelbarkeit ermöglichte mir, prozesshafte „Veränderungen von moralischen Überzeugungen, Handlungsmustern und Selbstbildern“ nachzuvollziehen, wie es KulturanthropologInnen des von 2004 bis 2013 andauernden Forschungsprojektes Verwandtschafts-Kulturen des Institutes für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität Berlin fordern (Knecht, Klotz, Polat & Beck, 2011, S. 25). Diese kritisieren, dass bisherige Forschungen neuer Familienformen sich meist auf die Extremsituationen der Befruchtung oder Kindeszeugung fokussierten, wobei längere Beobachtungen fehlten. Sie selbst verschrieben sich daher einer Jahre andauernden Beobachtung und Interaktion mit ProtagonistInnen, allerdings in der postnatalen Phase einer schon entstandenen Familie (Knecht et al., 2011). Meine Forschung hingegen analysiert speziell die andauernden Prozesse der pränatalen Entstehung und Verrechtlichung zweier Familien, sowie die Bedingungen und Freiheiten, denen Entscheidungen und Durchführungen elterlicher Sorge im Entstehungsprozess unterstellt sind.
Das Konzept des Care als relationale Aktivität der Sorge wird vermehrt in kulturanthropologischen Studien, unter anderem zu Kinship, verwendet. Dabei verstehe ich Care weniger als kommodifzierte Form des Care labour, sondern vielmehr als das Kümmern um die physischen und emotionalen Bedürfnisse einer Person (vgl. Martin, 2013). Im Kontext meiner Arbeit werde ich den Begriff Caring in der englischen Present Progressive Form verwenden, um das aktive Tun, wie es das Doing Kinship beschreibt, auszudrücken. Konkret fasse ich den Begriff des Caring nach seiner englischen Bedeutung in drei verschiedene Aspekte, welche den Hauptteil meiner Arbeit gliedern: Zunächst betrachte ich das Caring for someone, für jemanden sorgen, als Strategien der Sorge, die soziale Präsenz und Affinität innerhalb der Elternkonstellation zum Ausdruck bringen. Hierbei blicke ich auf Verwandtschaftsvorstellungen, welche die Familiengründung strukturieren. Wie wird die Dreielternschaft im Alltag untereinander und vor anderen agiert und kommuniziert? Welche Rolle spielt die elterliche Sorge in der Herstellung und Legitimierung der Dreielternschaft?
Anschließend betrachte ich das Caring about oneself, der Sorge für sich selbst, als Selbsttechnologie und Umdeutung des Körpers, welche während der Kinderplanungsphase stattfinden. Denn in der Umsetzung der Befruchtung zwischen nicht sexuell agierenden Eltern spielt die Materialität des Körpers und Körpersubstanzen sowie dessen reproduktive Deutung eine Rolle. Hierbei soll die veränderte Wahrnehmung und Subjektivierung des Körpers innerhalb von Wissensordnungen biomedizinischer Diskurse nachgezeichnet werden.
In Being cared for betrachte ich die von außen kommende Sorge durch staatliche Regulierungstechnologien. Wie wird die Sorge des Staates im Bereich der Familie verhandelt und beurteilt? Ethisch-rechtliche Regularien um Elternschaft und Nutzung von Reproduktionstechnologien untersuche ich dabei auf ihre transnationale Einbindung sowie ihre Umgehung hin. Welche Rolle spielt die rechtliche Festschreibung in den Handlungsmöglichkeiten des elterlichen Kümmerns um das Kind? Konkret legt meine Arbeit damit einen Fokus auf die elterliche Sorge in der Gestaltung und Anerkennung der Dreielternschaft im Prozess des Doing Kinship. Die Dreielternschaft stellt im gesellschaftlichen Diskurs zu Familie eine „Irritation der Ordnung“ dar, wie sie Sabine Eggmann als von Foucault inspirierten Forschungszugang beschreibt (Eggmann, 2013, S. 62). Dies ermöglicht mir in meiner Forschung, die Produktion und Herstellung „naturalisierte[r] verwandtschaftliche[r] Ordnungen“ (Knecht, Beck & Hess, 2007, S. 9) aufzuzeigen, um die Entstehung von Möglichkeiten und Grenzen, Inklusion und Exklusion, Eigenem und Fremdem in der sozialen Familiendefinition zu erkennen.
In der Entwicklung der kulturanthropologischen Verwandtschaftsforschung hatten diejenigen WissenschaftlerInnen eine tragende Rolle, welche auch in kulturtheoretischen Verortungen im Fach zu finden sind, was darin begründet ist, dass in der Verwandtschaftsforschung entscheidende fachliche Debatten und Fragen ausgehandelt wurden (Knecht, 2007). Meinen Blick auf Sorge in der Herstellung neuer Familienformen situiere ich im Forschungskontext des seit den 90er Jahren vorherrschenden Konzeptes des Doing Kinship.
Verwandtschaft war in der Kulturanthropologie bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein entscheidender Forschungsbegriff, mit welchem soziale Ordnungen, vor allem in als weniger fortschrittlich betrachteten Gesellschaften, dargestellt wurden (Beck, Hess & Knecht, 2007). Verwandtschaftsbeziehungen wurden höchst strukturell in binären Formeln zum Ausdruck gebracht, was Claude Levi-Strauss im Strukturalismus begründete. Im Hintergrund des Evolutionismus ging die Vorstellung des zunehmenden menschlichen Fortschrittes mit der Ablösung von Familienstrukturen durch politische und wirtschaftliche Institutionen einher, wobei die Kleinfamilie als ein übrig gebliebener Teil der früheren Verwandtschaftsstruktur betrachtet wurde (Beck et al., 2007; Timm, 2012). Eine neue Generation von ForscherInnen der 1930er und 40er Jahre, wie Raymond Firth (1936), kritisierte die strukturalistische Haltung und machte auf den dynamischen Prozess von Verwandtschaftsbildung aufmerksam. Auch Bronislaw Malinowski (1936) brach in diesen Jahren die damals vorherrschende Perspektive, in welcher Kindeszeugung und -empfängnis lediglich auf Naturaspekte bezogen wurde, indem er diese Prozesse mit Blick auf ihr kulturelles Fundament neu interpretierte. So begann die Verwandtschaftsforschung mit der Interpretation von Normen und Repräsentationen innerhalb sozialer Beziehungen, welche die Handlungsfreiheiten Einzelner bestimmen (Beck et al., 2007). Pierre Bourdieu benannte bereits die heute in der kulturanthropologischen Verwandtschaftsforschung vorherrschende Betrachtungsweise von Verwandtschaft als „eine[r] Sache […], die man macht, und aus der man etwas macht“ (Bourdieu, 1979, S.77). Mit David Schneiders Aussage, Verwandtschaft gäbe es nicht, veränderte er 1984 den Blick auf Verwandtschaft grundlegend und ebnete dem heute benannten Doing Kinship den Weg. Als Teil des American Kinship beschrieb Schneider Biologie und Blut als Symbole, denen vor allem kulturell Bedeutung gegeben würden. Dieser symbolischen Anthropologie kann auch Hildred und Clifford Geertzs (1978) Verwandtschaftsstudie zugeordnet werden. Seit den 1990er Jahren betrachten kulturanthropologische Studien von beispielsweise Janet Carsten (2004) im Sinne der New Kinship Studies und dem Doing Kinship Verwandtschaft als eine durch Aktivität geformte Kategorie.
Das Konzept des Doing kommt aus der Geschlechterforschung und zeigt Geschlechtszugehörigkeit als soziale Konstruktion auf, welche durch einen andauernden Prozess der Aktivität und des Herstellens geformt wird (Gildemeister, 2008). Die kulturanthropologischen Forschungen von Geschlecht und von Verwandtschaft sind ähnliche Wege gegangen. In beiden Positionen wurde zunächst von einer klaren Unterscheidung zwischen Natur und Kultur ausgegangen. Kulturanthropologische Forschungen bezogen sich demnach auf die Herstellung des sozialen Aspektes – Gender in der Geschlechterforschung und soziale Elternschaft in der Verwandtschaftsforschung –, während der biologische Aspekt als dahinterstehende, gegebene Kategorie konzipiert wurde (vgl. Carsten, 2004; Gildemeister, 2008). Die heutige Sicht des Doing Kinship, der ich meine Forschung zuordne, sieht in der Verwandtschaftskonstruktion keine biologische, von der sozialen Dimension befreite Betrachtung und Wahrnehmung von Verwandtschaft. Gesellschaftlich wird Verwandtschaft jedoch auch heute häufig als Reflex auf eine natürliche Begebenheit verstanden, aus derer sich die vorgegebenen Eigenschaften von Familienmitgliedern (kinsperson) mit sozialer Bindung ergeben. Diese Verwandtschaftsvorstellung wird als selbstverständlich naturalisiert, indem sie im Diskurs mit der natürlichen, biologischen Ebene verbunden wird (Carsten, 2004; Faubion, 2001; Gildemeister, 2008).
Doing Kinship hingegen sieht Verwandtschaft nicht als Ausgangspunkt für menschliches Handeln und menschliche Beziehungen, sondern als das Ergebnis sozialer Prozesse. Verwandtschaft wird somit als eine Vielzahl von Handlungen begriffen, welche diese herstellen (Carsten, 2004; Faubion, 2001). In John Bornemans (2001) Studie zur Umdeutung von Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der Verrechtlichung homosexueller Paare, die mich in meiner Analyse inspiriert hat, beschrieb er Verwandtschaft auf einem Gefühl der Zugehörigkeit beruhend, das durch Sorge motiviert als auch produziert wird. Das Konzept der Sorge basiert auf Martin Heideggers (1927) Theorie, das menschliche Dasein als eine zeitliche Konstitution von Sorge zu begreifen. Menschen organisierten ihre Lebensphasen und Erfahrungen um Narrative des Sorgens für jemanden und etwas. Dabei handelt es sich immer um Care-Praktiken des Selbst im Verhältnis zu anderen bzw. zu sich selbst, wie es im Hauptteil meiner Arbeit zum Ausdruck kommt (vgl. Faubion, 2001; Todorov, 1996). Verwandtschaft wird in dieser Verbindung durch Caring gelebt, was in der Elternschaft über das Sorgerecht institutionalisiert wird. John Borneman (2001) kritisiert in seiner Studie, dass kaum erforscht wurde, wie AkteurInnen mit einem Ausschluss der eigenen Familienkonstellation und der damit verbundenen Unterbindung der elterlichen Sorge im Hintergrund proreproduktiver institutionalisierter Heteronormativität umgehen. Mein Blick auf die Festschreibung des elterlichen Sorgerechtes innerhalb der Dreielternschaft ermöglicht mir eine solche Analyse, wobei mir die verbindenden Handlungsweisen des Doing Kinship und Caring einen theoretischen Rahmen bieten.
Ein erster Zugang zu meiner Verwandtschaftsforschung bildete ein diskursanalytischer Ansatz mit Blick auf gleich strukturierte Aussagen im gesellschaftlichen und medialen Diskurs, um Konsequenzen der gesellschaftlichen und rechtlichen Ordnungen für die Handlungsmöglichkeiten Einzelner nachzuvollziehen (Foucault, 1998). Somit ging ich in der vorliegenden gegenwartsbezogenen Verwandtschaftsuntersuchung feldexplorativ vor, um mit Inspiration aus Foucaults „Werkzeugkasten“ einen eigenen methodischen Weg zu finden (Eggmann, 2013, S. 57). Hierbei geht der diskursanalytische Ansatz genau wie die Grounded Theory induktiv vom im Feld erhobenen Material aus, sodass die Strukturierung des Gegenstandes und dessen Relevanz durch die Forschungssubjekte erfolgt. Im Gegensatz zur Grounded Theory, welche das Datenmaterial vom Subjekt ausgehend zu einer umfassenden Theorie eines bestimmten gesellschaftlichen Bereiches verdichtet (Eggmann, 2013), geht Michel Foucaults (1997) diskursorientierte Analyse von normalisierten Ordnungen aus, um subjektive Sinnherstellung im Denken und Handeln Einzelner zu erkennen. Innerhalb des Diskurses zu Familie identifizierte ich die von der Zweielternschaft abweichende Familienform bei der Betrachtung unterschiedlicher Beitragsquellen wie journalistische als auch fiktive Fernsehsendungen und Zeitungsartikel (vgl. iii. Mediale Quellen, iv. Internet-Quellen) als problematisierten, verhandelten Punkt in der naturalisierten Ordnung. So ist die Profilbildung meines Untersuchungsfeldes, aus dem ich mein empirisches Material generiere, von der konkreten Irritation geprägt, welche die Familien in ihrer Dreielternschaft für die gesellschaftliche Ordnung darstellen und die Foucault als entscheidenden Forschungszugang beschreibt.
Der pränatale Prozessverlauf der Familienherstellung von Jenny, Stella und Daniel stellte ab Juli 2015 zunächst meine alleinige Falluntersuchung dar, welche ich gegenwartsbezogen in jedem Schritt begleitete. Auf Grund der sich schrittweise im Forschungsprozess zeigenden Entwicklung der geplanten Dreielternschaft hin zu einer Zweielternschaft (vgl. 3.4. „Jahrelange Schwebe“: Anamnese der Reproduktionsgeschichten), entschied ich nach dem ersten Forschungsjahr mein Sampling um die Kontrastierung einer Familie, die die Elternschaft bereits zu dritt leben, zu erweitern. Somit begann ich im August 2016 die Familienpräsentation von Anita, Renate und Nick in der postnatalen Phase gegenwartsbezogen zu begleiten, sowie deren pränatalen Realisationsprozess retrospektiv nachzuvollziehen. Der Fortgang meiner Forschung bedeutete somit keine weit gefächerte Diskursanalyse im klassischen Sinne der Betrachtung vieler Publikationen. Vielmehr verstehe ich das Sprechen der AkteurInnen als Möglichkeit des Aufzeigens der diskursiven Ordnung im eng gefassten Handlungsfeld. Damit trifft mein diskursanalytischer Ansatz normalisierter Ordnungen, welcher Ausgangspunkt sowie Bezugspunkt meiner Ergebnisse darstellt, auf das von Schütze beschriebene narrative Erhebungs- und Auswertungsverfahren innerhalb meiner gegenwartsbezogenen Ethnografie (vgl. Foucault, 1998; Schütze, 1976). Dazu habe ich die Aktivität der Familienschaffung über narrative Interviews und teilnehmende Beobachtungen über einen Zeitraum von insgesamt drei Jahren zu verschiedenen Zeitpunkten erforscht. Ich halte mich damit räumlich und zeitlich an Max Gluckmans (1940) methodische Herangehensweise, die Handlungen der AkteurInnen in einer multilokalen und multitemporalen Ethnographie zu begleiten. So lege ich in meiner Ethnografie einen Fokus auf die akteursgerichtete Dynamik und die prozesshaften, sich zeitlich verändernden Praktiken der Familienherstellung. Die für die beiden Familien wichtigen Schritte in ihrer Familiengründung, ihre individuellen Wege sowie Treffen mit Dritten flossen über empirisches Material von Interviewtranskriptionen, Beobachtungsprotokollen und Feldtagebucheinträgen in die Forschung ein, welche unter „v. Erhobenes Material“ chronologisch aufgeführt sind.
In narrativen Interviews gab ich den AkteurInnen die Möglichkeit, ohne vorgegebene Richtungsstruktur über den von Fritz Schütze (1976) beschriebenen Weg des Hervorlockens ihrer individuellen Perspektive möglichst offen Ausdruck zu geben. Diese Interviewform nutzt die Zugzwänge des Erzählens und basiert damit auf dem Prinzip des sprachlichen Kommunikationsschemas, welches Erzählen, Beschreiben und Argumentieren miteinschließt. Die Rekonstruktion von Orientierungsstrukturen des Handelns der AkteurInnen wird durch die Dialogizität und Interaktion mit mir als Interviewerin in der kommunikativen Zuhörerrolle möglich, da die AkteurInnen mir die Ereignisse nachvollziehbar übermitteln (vgl. Schmidt-Lauber, 2007). Im Falle von anfänglicher Unsicherheit der AkteurInnen, beschränkte ich mich anstatt einer vorgegebenen Fragenstruktur lediglich auf ermutigendes Nachfragen, welches auf das vorher von ihnen Gesagte einging, sodass die inhaltlichen Impulse der AkteurInnen richtungsgebend waren. Neben Einzelinterviews gaben mir Interviews mit zwei AkteurInnen, sowie situative Gruppengespräche und Verhaltensweisen der AkteurInnen untereinander über die Dynamik von Entscheidungsentwürfen und Aushandlungsstrategien Aufschluss. Gruppeninterviews, bei denen es lange narrative Passagen ohne jegliche verbale Richtungsimpulse durch mich als Interviewerin gab, stellten sich als sehr interessant heraus. Die in den Gruppeninterviews von den AkteurInnen gemeinsam rekapitulierten Ereignisse zeigen den Übergang zur Elternschaft zu dritt besonders deutlich. Fritz Schütze (1976) hat das narrative Interview als Instrument der Datengewinnung zur Rekonstruktion vergangener Ereignisketten beschrieben. Dies kam auch bei meinen Familien zum Tragen, wenn Anita von ihrer bereits vollzogenen Familiengründung erzählt oder Jenny, Stella und Daniel von ihrem ein Jahr zurückliegenden ersten Gespräch über die Insemination. Andererseits vollzog ich auch das situative Erleben der Handelnden in direktem Kontext der Ereignisse, wie dem Regenbogenfamilientag oder dem Christopher Street Day, in Hamburg und Köln nach. Dazu nutzte ich die Methode der vor Ort stattfindenden Contextual Interviews, welche eine Verbindung aus teilnehmender Beobachtung und qualitativem Interview darstellen (Akselbo, 2006). Die Methode der teilnehmenden Beobachtung mit Schwerpunktsetzung auf besondere Lebensereignisse innerhalb der Familienschaffung ermöglichte mir, über „close-to-the-moment record[s]“ (Emerson, Fretz & Shaw, 1995, S.18) persönlich familiäre Zusammenhänge aktiv zu erleben und gleichzeitig mit analytischer Distanz das soziale Handeln der AkteurInnen zu verstehen. Im Sinne der Netnography Studies (Kozinets, 2010) flossen die E-Kommunikation der AkteurInnen untereinander in der räumlichen Distanz über WhatsApp-Nachrichten in die Forschung ein. Ebenso führte ich über Skype, Facebook und WhatsApp mit den AkteurInnen Gespräche nach der Methode der E-Interviews (Schmidt-Lauber, 2007), sodass sie mir auch kurzfristige Veränderungen und Variablen in ihrer Familiengründung direkt übermittelten.
Innerhalb des Forschungszeitraumes von drei Jahren verliefen Erhebung, Theoriebildung und Auswertung meiner Forschung parallel zueinander. Hierbei habe ich während der Betrachtung des Materials über narrative und biographische Verfahren die Entstehung theoretischer Muster abgewartet, sodass sich erst in fortgeschrittener Analyse das Konzept der Sorge als theoretisches Muster herauskristallisierte. Zunächst verschriftlichte ich alle 17 Interviews und teilnehmenden Beobachtungen mit dem von Uwe Flick beschriebenen „Genauigkeitsgrad“ (Flick, 2007, S. 379), sodass die Transkriptionen vollständig Sprache und Handlung der AkteurInnen aus dem erhobenen Material abbilden (vgl. Kallmeyer & Schütze, 1976). Den gesamten transkribierten Text segmentierte ich, indem ich „Rahmenschaltelemente“ (Schütze, 1976, S. 199) wie danach und ein Monat später identifizierte und so Segment für Segment die Ereignisse der Familienformung erkennen konnte. Martin Schmeiser (2003) beschreibt für die Biographie-Forschung das Herausarbeiten faktischer Prozessstrukturen als entscheidend für eine tiefgreifende Deutung und Interpretation. Dies scheint mir im komplexen Familiengründungsverlauf entscheidend, obwohl es sich hierbei lediglich um einen biographischen Lebensabschnitt und nicht um eine komplette Biographie handelt. Als Interpretationsgrundlage erstellte ich eine von Martin Schmeiser (2003) beschriebene biographische Agenda sowie eine biographische Anamnese dieses Lebensabschnittes der AkteurInnen. Für die biographische Agenda stellte ich zunächst tabellenförmig Kalenderdaten mit Ereignissen und involvierten Bezugspersonen zusammen, sodass ein verdichteter Handlungsüberblick, sowie Parallelstränge und Wiederholungen sichtbar wurden. Im nächsten Schritt erstellte ich daraus die verschriftlichten biographischen Anamnesen für beide Familien. Diese Anamnesen sind „im kontinuierlichen Präsens und der dritten Person verfasste, und chronologisch geordnete Beschreibungen“ (Schmeiser, 2003, S. 61) des entscheidenden Lebensabschnittes, in dem die Familiengründung stattfand. Dies hat zum einen systematische Vorteile, da die Anamnese den Prozessverlauf inklusive des Entscheidungsraums der AkteurInnen rekonstruiert, was entscheidendes Ziel der Interpretation ist. Zum anderen ermöglicht die Anamnese innerhalb meiner Forschungsarbeit in Kapitel 3.4. „Jahrelange Schwebe“: Anamnese der Reproduktionsgeschichten dem Leser frühzeitig einen Überblick über den gesamten zeitlichen Verlauf zu verschaffen (vgl. Schmeiser, 2003).
Anschließend kehrte ich zum segmentierten transkribierten Original-Text zurück, um die Segmente nun über die faktische Prozessstruktur hinausgehend zu kategorisieren und zu analysieren. Hierzu betrachtete ich mit Hilfe des narrativen Verfahrens Segment für Segment chronologisch nach Pausen, Betonungen, ausgeschmückten Situationsbeschreibungen sowie dem Einsatz wörtlicher Reden im Sprechen, um auf von den AkteurInnen gesetzte Motivationsfilter zu schließen (vgl. Schütze, 2016). So konnte ich verbindende Ereignisse und Themen identifizieren, die Segmente neu gruppieren sowie dahinterstehende intentionell und institutionell motivierte Handlungsbegründungen kategorisieren (vgl. Fuchs-Heinritz, 2009). Auf Grund der Länge meiner Forschung und der vielen darin entstandenen Kategorien von Wissensarbeit und Reproduktionstechnologien bis Unsicherheitsstrategien war es entscheidend, offen für Verschiebungen der Forschungsperspektive zu bleiben, um das Entstehen des Theoriegerüstes direkt am Gegenstand zu ermöglichen. So zeigte sich in später Phase der Datenanalyse nach mehrfachem Vergleich und Abstraktion der aus dem Material entstandenen Kategorien das Phänomen der Sorge als zentrale Bedeutungsebene. Für den Gegenstandsbereich der Dreielternschaft sind alle anderen Kategorien um das Phänomen der Sorge angeordnet. In meiner Forschungsarbeit stelle ich die thematischen Bereiche der Sorge, wie von Brigitta Schmidt-Lauber als „selektive Plausibilisierung“ beschrieben, durch zitierte, interpretierte Interviewpassagen dar (Schmidt-Lauber, 2007, S.184). Dabei folgt die schriftliche Ergebnissicherung meiner Forschung einer „systematisch thematischen Analyse“, in welcher die Stimmen der AkteurInnen und deren Sinnkonstruktionen im Ergebnis ebenso präsent sind wie meine thematische Interpretation als Forscherin (Faraday & Plummer, 1979, S.775). So kann im Sinne meines diskursorientierten Zugangs konkret nachvollzogen werden, mit welchen Worten die AkteurInnen die untersuchte Realität diagnostizieren und innerhalb der institutionellen Rahmenbedingungen argumentieren (vgl. Foucault, 1998).
Bei beiden Familien ist die Familiengründung ein mehrere Jahre andauernder Prozess mit verschiedenen Wendungen und einer schlussendlichen Familienkonstellation, die vom Wunsch der Familien zu Beginn der Planungsphase abweicht. In der folgenden Anamnese zeige ich den chronologischen Prozessablauf einzelner Schritte und Pläne der Familien auf, um die Analyse der dahinterstehenden Praktiken sowie Familienvorstellungen und Entscheidungsgrundlagen in den darauf folgenden Kapiteln nachvollziehbar zu machen.
2014 fragt das lesbische Paar Stella und Jenny ihren homosexuellen Freund Daniel, ob er sich die Elternschaft mit ihnen vorstellen kann. Daraufhin planen sie den gemeinsamen Einzug in ein Haus, um zu dritt Eltern für das zukünftige Kind zu sein. Jenny soll das Kind austragen, Daniel Samenspender und sozialer Vater sein, der seine rechtliche Vaterschaft nach der Geburt an Stella abtreten soll. Über die Stiefkindadoption würde Stella damit neben Jenny rechtliche Mutter des geplanten Kindes, was auf Grund der eingetragenen Lebenspartnerschaft von Stella und Jenny möglich wird. Die im Oktober 2015 geplante erste Heiminsemination über Bechermethode, wie sie in Kapitel 5.2. „Sperma in Spritze“:Körpersubstanzen als Befruchtungsrohstoff weiter ausgeführt wird, verzögert sich um eineinhalb Jahre, da die Familie auf Jennys unbefristete Anstellung wartet. Da sich diese berufliche Situation nicht einstellt, setzen sie sich selbst eine Frist und inseminieren im Januar 2017 zum ersten Mal. Jenny wird direkt schwanger, verliert jedoch das Kind im März 2017. Einige Wochen nach der Fehlgeburt beantragen Jenny und Stella in der städtischen Behörde, Pflegeeltern zu werden, möchten aber auch weiterhin die Insemination versuchen. Daniel jedoch grenzt sich im Juni 2017 von den Familienplänen ab. Jenny und Stella treffen sich daraufhin mit einem potentiellen Samenspender aus einem Internet-Forum, der häufig an Paare spendet und im Gegensatz zur Planung mit Daniel keine aktive Rolle im Leben des Kindes einnehmen soll. Im Dezember 2017 bekommen Stella und Jenny den eineinhalb-jährigen Luis als Pflegekind und Jenny geht sofort in Elternzeit. Sie leben nun in der Zweielternschaft mit Pflegekind Luis und haben keinen Kontakt mehr zu Daniel.
Das Paar Anita und Renate plant eine Zweielternschaft, bei der der Samenspender dem Kind bekannt sein, aber keine aktive Vater-Rolle in dessen Leben einnehmen soll. 2009 beginnen sie, sich mit verschiedenen potentiellen Spendern aus Internet-Foren zu treffen. Nach sechs-monatigem Kennenlernen beginnen sie die Insemination mit Lorenz, doch es folgen Monate erfolgloser Befruchtungsversuche. 2012 wird Renate schwanger, doch sechs Wochen später erleidet sie eine Fehlgeburt. Nach der Fehlgeburt suchen Renate und Anita sich einen neuen Spender, da Lorenz sich als Massenspender herausstellt, was Anita und Renate nicht möchten. Zusammen mit dem neuen Samenspender Nick besuchen sie eine Kinderwunschklinik. Auf Grund der besseren Qualität von Anitas Eizellen entscheiden sie sich für eine Eizellenspende von Anita an ihre Frau Renate, was sie in einer Klinik in Holland umsetzen (vgl. 6.3. Umgehen des Fürsorgestaates und Transnationalität). Ihr gemeinsamer Sohn Sven wird im Januar 2015 geboren. Nach der Geburt des Kindes willigt Nick der Stiefkindadoption durch Anita ein, wodurch Anita und Renate ein Jahr nach der Geburt nach Abschluss der Stiefkindadoption Svens rechtliche Eltern sind. Nick behält entgegen der ursprünglichen Planung eine aktive soziale Vaterrolle und sie leben ihre Familie nun in der Dreielternschaft.
Alltagspraxen der Sorge, wie sich kümmern, Zeit verbringen, unter einem Dach leben sowie verbindende Treffen, Kommunikation und gemeinsame Malzeiten stellen wichtige Variablen in der Familienherstellung dar (Thelen, 2014; Weismantel, 1995). Tzvetan Todorov (1996) beschreibt Care-Praktiken als das Verbinden des eigenen „Ichs“ mit verschiedenen, individuellen „Dus“, wodurch eine neue Rolle und Identifizierung des „Ichs“ wie in diesem Fall als Elternteil stattfindet. Das Handeln und sich Verbinden von Familienmitgliedern wird von ethisch-rechtlichen sowie institutionalisierten Rahmenbedingungen vorstrukturiert, gestützt und legitimiert (vgl. Wetterer, 2010). Somit stellt dieses Kapitel die Frage, worauf das soziale Verbinden der drei Elternteile basiert, wenn keine rechtlich und gesellschaftlich klassifizierte Eindeutigkeit produziert werden kann. Hierzu blicke ich auf naturalisierte Familienvorstellungen, welche Wahrnehmungen der Familienzugehörigkeit und Fürsorge-Erwartungen prägen. Die Betrachtung der „Neu-Klassifizierung sozialer Beziehung entlang von Care-Praktiken“, wie sie Tatjana Thelen als neue Perspektive beschreibt (Thelen, 2014, S.22), lässt mich dabei die Gemeinschaftsbildung der beiden Familien als auch die spätere Auflösung der Dreielternschaft von Stella, Jenny und Daniel nachvollziehen.
Kulturanthropologische Forschungen betonen, dass die westliche anerkannte Familienform von der Doppelnatur der biologisch-sozialen Elternschaft geprägt ist (König, 1974; Thompson, 2007). Diese Verbindung der sozialen Elternschaft mit der scheinbar natürlichen, genetischen Ebene macht die soziale Konstruktion von Verwandtschaft, wie es das Konzept des Doing Kinship beschreibt, unsichtbar (Carsten, 2004). Diese Familienvorstellung spiegelt sich in der Familienherstellung der Familien an verschiedenen Stellen der Reproduktionsgeschichte wider.
So ist das genetische Herkunftswissen des Kindes innerhalb der Familie von Stella, Jenny und Daniel ausschlaggebend für die Entscheidungsbegründung für eine private Samenspende mit bekanntem Spender. Eine private Samenspende bringt für lesbische Paare das Risiko mit sich, dass der Vater nach der Geburt des Kindes auf seine rechtliche Vaterschaft besteht und die Stiefkindadoption durch die zweite Mutter verhindert (Familienanwältin Lünsmann, Beobachtungsprotokoll 9, 2016). Trotzdem grenzen beide Familien sich entschieden von einem Zusammenkommen durch „Mittler-Instanzen“ (Knecht, 2010, S. 6) wie Samenbanken ab, wo der anonyme Samenspender kein Zustimmungsrecht zur Stiefkindadoption geben müsste.
J: „[Das Kind] soll auf jeden Fall den Vater kennen und auch wissen, dass es einen gibt […] Weil irgendwann fragen Kinder sowieso. Dass es nicht durch Bienchen und Blümchen passiert, das ist ja auch klar (.) S: Das wäre natürlich bei einer anonymen Spende gar nicht möglich. Da wäre ja schon alleine (–) die Möglichkeit wird einem beschnitten.“ (Jenny & Stella, Interviewtranskript 4, 2016)
Der Verlust der genetischen Information im Falle einer Samenspende ist für Jenny und Stella Entscheidungsbegründung für den Weg der privaten Insemination und bekannten Vaterschaft. Der spätere Wunsch des Kindes, seine genetischen Hintergründe zu erfahren, wird bereits in dieser Phase mitgedacht. Die Entscheidung eines anderen befreundeten lesbischen Paares, ihr Kind über Samenspende mit anonymem Vater aufwachsen zu lassen, bezeichnet Daniel in einem Gespräch mit Stella und Jenny als „egoistisch“, weil sie ihrem Kind damit die Möglichkeit einer Aufklärung über den genetischen Vater nehmen (Daniel, Beobachtungsprotokoll 10, 2016). Auf Foren für private Samenspende im Internet fragt ein Samenspender ebenfalls, was „falsch daran wäre, wenn der Spender auch Umgang mit dem von ihm gezeugten Kind haben will“ (Wunschkind4you, 2017) und beschreibt eine Unterbindung des genetischen Wissensaustausches als negativ. Maren Klotzs Verwandtschaftsforschung zu diskursiv geleitetem Sprechen von „policy makers“ innerhalb europäischer Parlamente zeigt ähnliche Aussagen (Klotz, 2007, S. 87). Eltern werden als „selfish subjects“ konzipiert, die das Recht des Kindes auf vollständig Identitätsentfaltung verletzen, wenn sie diesem die eigenen genetischen Hintergründe nicht aufzeigen (Klotz, 2007, S. 87). Eine 2007 verabschiedete EU-Richtlinie schrieb das genetische Herkunftswissen als Recht der Kinder fest und forderte Samenbanken auf, die Samenspenderanonymitäten rückgängig zu machen. Seit der Implementierung dieser Richtlinie in die deutsche Gesetzgebung müssen Samenbanken dem Kind auf Wunsch nach Vollendung des 18. Lebensjahres die 30 Jahre aufzubewahrenden Daten des Samenspenders nennen (Schneider, 2010). Dahinter steht eine Genetecisation der Familienvorstellung, in welcher genetische Informationen entscheidend für die Konstitution verwandtschaftlicher Verhältnisse sind (Klotz, 2007). So geht mit dem Wissen um genetische Verbindung zwischen dem Kind und Daniel ein Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Dreierkonstellation einher – „dass [Daniel] eben auch dazu gehört“ (Stella, Interviewtranskript 4, August 2016). Mit dieser Verwandtschaftszugehörigkeit gehen Erwartungen der elterlichen Sorge und „Verantwortung“, wie Daniel beschreibt (Interviewtranskript 6, 2016), einher und somit einer Vereinigung der sozial-genetischen Vaterschaft.
Bei der Familienherstellung von Anita, Renate und Nick zeigt sich ebenfalls eine positive Imagination einer vereinigten, genetisch-sozialen Elternschaft, sowie eine dadurch hergestellte Verbindung zwischen den drei Elternteilen. Nach fünf Jahren erfolgloser Insemination und einer Fehlgeburt bei Renate entscheiden sich Anita, Renate und Nick für eine intrarelationale Eizellenspende: Das Embryo, entstanden aus Anitas Eizelle und Nicks Spermium, wird bei Renate eingesetzt, die das Kind schließlich austrägt. Die von ihnen gewählte holländische Kinderwunschklinik bewirbt die Eizellenspende mit Betonung des ebenfalls vorhandenen genetischen Einflusses der austragenden Mutter.
„Das Kind aus einer Eizellenspende ist Ihres. […] Neueste Forschungen haben ergeben, dass die Empfängerin einer gespendeten Eizelle dem Kind ihre eigene Genetik übergibt. Das Fruchtwasser beinhaltet genetisches Material, welches direkt die Entwicklung des Embryos beeinflusst. Somit wird das Kind, welches aus gespendeten Eizellen stammt, auch Ihre Gene haben.“ (Pronatal Kinderwunschklinik Homepage, 2018)
Die genetische Bindung der austragenden Mutter mit dem durch eine Eizellenspende entstandenen Kind wird über wissenschaftliche Erkenntnisse ausgewiesen und legitimiert. Die genetische Verbindung zum Kind wird als natürliche, gewünschte Familienherstellung gefasst, wodurch das Kind „Ihres“ wird und somit zu der austragenden Mutter gehört. Bei der Vorstellung einer genetisch-sozialen Verwandtschaftsverbindung trägt dieses wissenschaftliche Wissen einen integralen Bestandteil, wie es auch Knecht et al. (2011) in ihren Fallstudien zu Verwandtschaft identifiziert haben. Interessant ist, wie diese Wendung der Eizellenspende in der Reproduktionsgeschichte der Familie von Anita, Renate und Nick gedeutet wird und ihre sozialen Beziehungsdynamiken verändert.
„Für uns ist es halt echt so, unser Kind hat drei Eltern in der Tat […] Es hätte nicht funktioniert, wenn einer von uns gesagt hätte irgendwie(,) nee. Also insofern(,) wir haben alle drei unseren Anteil daran und sind alle irgendwie gleich wichtig. Das ist schon schön so (.)” (Anita, Interviewtranskript 11, 2016)
Der von Anita beschriebene Anteil, den alle drei Eltern durch die Eizellenspende an der Entstehung des Kindes haben, ist direkt an das geteilte genetische Mitwirken gebunden. In der Familienherstellung der Dreielternschaft wird es von ihr als positiv empfunden, dass alle Elternteile nicht nur sozial sondern auch genetisch an der Kindeszeugung beteiligt sind. Eine Verwandtschaftsbeziehung, die genetische und soziale Verwandtschaft vereint, wird als fördernd für die Integration aller Elternteile empfunden, denn „mehr gemeinsames Kind geht ja gar nicht“ (Anita, Interviewtranskript 11, 2016). Zu erkennen ist die Vorstellung einer Kinsperson, welche sich durch eine Beziehung intimer Zuneigung, geschaffen durch geteilte genetische Substanz, auszeichnet (vgl. Beck et al, 2007; Strathern, 1992). Naturalisierte Vorstellungen von Verwandtschaftszugehörigkeit beeinflussen und deuten bei beiden Familien das soziale Verbinden und bringen Handlungsanweisungen sowie Erwartungen elterlicher Sorge mit sich.
Wie im vorherigen Kapitel bei Stella und Jenny beschrieben, wollen auch Anita und Renate zu Beginn ihrer Familienplanung 2009 einen ihnen bekannten Spender, um das Kind später über seine genetische Herkunft aufklären zu können, „wo man dann irgendwann sagt(,) du kennst doch den und der hat uns eben damals geholfen“ (Anita, Interviewtranskript 11, 2016). Sie konzipieren den Samenspender begrifflich, wie Michi Knecht beschreibt, als Helfenden, Gebenden, Spendenden (Knecht, 2010). Im Gegensatz zu Stella und Jenny planen sie jedoch zu Beginn in der Zweielternschaft zu leben, da sie zu viel Kümmern des Vaters und „jemanden, der noch […] sich einmischt“ als störend befürchten (Anita, Interviewtranskript 12, 2016). Sie wollen das Caring des Vaters unterbinden und ihn nicht als sozialen Vater ansehen. Diese Vorstellung des Lebens in der Zweielternschaft ändert sich im Laufe der Zeit hin zur Dreielternschaft mit Vater Nick. Diese Entwicklung ist eng an Nicks Einsatz und seine gezeigte Fürsorge geknüpft, die ihn schrittweise zu einem dritten Elternteil mit vollwertiger sozialer Vaterrolle werden lassen. Es lässt sich eine erste Situationen im Interview identifizieren, in welcher Anita Nick als ein „6er im Lotto“ beschreibt in der Art und Weise wie er sich als Vater verhält (Anita, Interviewtranskript 11, 2016). Hierbei beschreibt sie seinen Einsatz während der Inseminationsphase zu allen Terminen in der Kinderwunschklinik mitzukommen und als angeblicher Partner Renates die Umsetzung zu erleichtern (vgl. 6.1. Sorge des Staates als Ausschluss und Eingriff in die Privatsphäre). Anita beschreibt später, dass die Dreielternschaft „insgeheim eigentlich immer das gewesen ist, was wir uns gewünscht haben, dass es genau so kommt. [Obwohl] zwischen `so haben wir uns das mal vorgestellt´ und `so ist es jetzt in der Realität´ halt eigentlich eine riesen Lücke [ist]“ (Anita, Interviewtranskript 11, 2016). Diese Realisierung ist verbunden mit einer Notfallsituation innerhalb der Familiengründung, als Renate auf Grund einer Schwangerschaftsvergiftung in Lebensgefahr schwebt. Würde Renate etwas zustoßen, hätte Anita keinerlei Rechte an dem von Renate ausgetragenen Kind (vgl. 6.2. „Ich bin rechtlich nichts“: Konvergenz von Care und Recht). Hier sei die Präsenz von Nick als Vater sehr hilfreich für Anita gewesen.
„Da war es wirklich so mit unserem Papa, dass der gesagt hat, `naja nun mal ganz ruhig, ich bin ja auch noch da´ (-) Und er hat immer gesagt, `wir beide können nachweisen, dass es unser Kind ist´ (.) Und das ist schon, ja, wie gesagt der 6er im Lotto.“ (Anita, Interviewtranskript 11, 2016)
Nicks Fürsorge um das Kind sowie um Anitas Elternschaft bindet ihn intensiv in die Dreielternschaft ein und macht ihn zu einem gleichwertig anerkannten Teil des Familiennetzwerkes. Die gemeinsame Sorge stellt eine direkte elterliche Verbindung und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Nick und den beiden Frauen her, woraufhin Anita und ihre Frau entgegen vorheriger Vorstellungen mit ihm in der Dreielternschaft leben möchten. Care verbindet die Fürsorgenden mit den Versorgten im Sinne einer Beziehung des „Ichs“ mit dem „Du“, wobei eine neue Identifizierung von Nick als Vater stattfindet (vgl. Drotbohm & Alber, 2015; Todorov, 1997). Dieses Einbeziehen Nicks in die soziale Elternschaft zeigt sich auch an der dabei verwendeten begrifflichen Auswahl Anitas, wenn sie von Nick als „unserem Papa“ spricht (Anita, Interviewtranskript 11, 2016).
Ein Jahr nach der Geburt gibt Nick all seine Rechte und Pflichten ab, um die Stiefkindadoption von Sohn Sven durch Anita zu ermöglichen. Obwohl und gerade weil Nick daraufhin in keinen offiziellen Dokumenten mehr auftaucht, ist er eng ins Verwandtschaftsnetz eingebunden. Auch Nicks Eltern sind bei der ersten Geburtstagsfeier von Sven dabei und werden explizit als Großeltern benannt. Heike Drotbohm (2015) beschreibt solche Verwandtschaft herstellenden Treffen, in welchen soziale Anerkennung und Klassifizierung stattfindet, als Care- Praktiken. Hierbei wird Affinität ausgedrückt und soziale Präsenz über die Familienpräsentation vor anderen Familienmitgliedern und FreundInnen gezeigt. Durch solche Care-Strategien finden Prozesse der Integration in das soziale Leben statt, wie es das Konzept des Kinning innerhalb des Doing Kinship beschreibt (Thelen, 2014). Hierbei spielt eine Rolle, dass die Verwandtschaft erst dadurch besteht, dass sie von anderen so angenommen wird (Beck, 2007; Wetterer, 2010). Im kollektiven Inszenieren von Verwandtschaft wird die Dreielternschaft auch ohne staatlich legitimierte Allianz sozial verbindlich und macht die rechtliche Schere in der sozialen Interaktion des Caring unsichtbar. In bereits vorhandenen Forschungen zu Adoptionen wird Care häufig als Bestätigung von Verwandtschaft in weiterem Familienkreise aufgezeigt, in welchem naturalisierte, biologische Verwandtschaftszugehörigkeit nicht gegeben ist (vgl. Drotbohm & Alber, 2015; Howell & Marre, 2006; Leinaweaver, 2015). Hier zeigt sich Care als Verwandtschaft produzierend und bestätigend im Falle einer Abwesenheit rechtlicher Verwandtschaftszugehörigkeit. Diese Care-Strategien machen auch den Vater als nicht rechtlich abgesicherte dritte Person zu einem vollwertigen Elternteil, der einen „Papa-Tag“ in der Woche alleine mit Sohn Sven verbringt (Anita, Interviewtranskript 11, 2016). Care-Strategien sind somit Aktivitäten, die Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit schaffen und das soziale Verbinden in der Dreielternschaft ermöglichen.
Daniel bezeichnet die Beziehung zwischen den Beteiligten als „familiäre Freundschaft“ (Daniel, Interviewtranskript 6, 2016) und hebt das bewusste Auswählen dieser Konstellation hervor, welche gleichzeitig aber auch die einzige Option für die Familie ist, in welcher nur zwei Elternteile rechtlich eingetragen werden können.
„Freunde sucht man sich ja eher aus […] In die Familie bist du geboren, das kann man sich nicht aussuchen (.) Da gibt es auch Leute, die man nicht mag. So ist es bei mir zumindest. Also ich würde es nicht unbedingt so als Familie bezeichnen (-) Eher als familiäre Frendschaft.” (Daniel, Interviewtranskript 6, 2016)
Mit der rechtlichen Offenheit grenzt Daniel ihre Konstellation in seiner Benennung von dem Begriff Familie ab. Familie stellt für ihn eine permanente Position dar, welche auch bei Ablehnung des Familienmitglieds bestehe. Marilyn Strathern (1991) beschreibt die Vorstellung einer solchen Verbindung, die keine Beziehungsoption offen lässt, als vorherrschende Familienvorstellung. Daniels alternative Bezeichnung der familiären Freundschaft soll diese permanente Position durchbrechen und die explizite Wahl ihrer sozialen Verbindung sowie deren ständig verhandelbaren Charakter betonen. Michi Knecht beobachtet in von der traditionellen Form abweichenden Familienverhältnissen das vermehrte Auftreten einer solchen Auffassung der Familienkonstellation als „explizit [gewähltes] Netzwerk“ (Knecht, 2009, S.49). Zunächst handelt Daniel also als ein wissender, sozial reflektierender Akteur innerhalb des Familien-Netzwerkes – eine Repräsentation eines Samenspenders und Vaters wie sie in kulturanthropologischen Verwandtschaftsforschungen kaum existent ist und von Baumeister-Frenzel et al. (2010) gefordert wird.
John Borneman (2001) beschreibt, dass erst die gegenseitige Sorge Authentizität in das existentielle Projekt der Familie legt und das Gefühl des Der-Familienzugehörigkeit-ausgeliefert-Seins überwindet. Denn dadurch würde Verwandtschaft zu einer aktiven Handlung der Sorge, welche soziale Verbindungen interpretiert, anstatt eines passiven Empfangens dieser Verbindungen. Dies ist auch in der nicht rechtlich kategorisierbaren Verwandtschaftszugehörigkeit zwischen den drei Elternteilen zu beobachten, welche ihre Zusammengehörigkeit bereits vor der Schwangerschaft ständig interaktiv über Care-Praktiken wie gemeinsame Familientreffen herstellen. Noch vor der ersten Insemination fuhren Stella, Jenny und Daniel zusammen in den Urlaub und verbrachten das Familienfest Weihnachten zu dritt – immer mit dem Hintergrund des Austestens der Familiensituation und des Besprechens der Pläne mit dem Kind. Diese Strategien der Sorge werden von einer ständigen Imagination der Familienrollen und des Zusammenlebens begleitet. Mary Weismantel (1995) beschreibt Zeitverbringen unter einem Dach als familiäre Care-Praktik. Diese lässt sich auch in Stellas Entscheidungsaushandlung, mit Daniel die Dreielternschaft leben zu wollen, identifizieren (vgl. Stella, Beobachtungsprotokoll 3, 2016).
„Das ist ja wie wenn man zurück schaut mit Eltern früher. Da macht ja auch der eine das eine, der andere das andere (.) Dann sitzt man vielleicht zusammen, dann quatscht man, was will man kochen, was will man machen (-) Das war eben so eine Normalität, das war völlig in Ordnung.“ (Stella, Interviewtranskript 4, 2016)
Entscheidend ist für Stella in diesem Zeitverbringen die Ungezwungenheit und Unabhängigkeit eines gemeinsamen Alltags. Diese Care-Praktik konstituiert ihre Verwandtschaft und ist Teil von Stellas Verwandtschaftsvorstellung, welche sie sowohl auf ihre ehemalige Stammfamilie mit ihren Eltern als auch ihre neue Dreieltern-Konstellation bezieht. Jennys unsichere berufliche Situation führt zu einer Wartezeit von eineinhalb Jahren bis zur Insemination. Diese Verzögerung des Inseminationstermins ist von aktiven Veränderungen der Lebensumstände sowie emotionalen Vorbereitungen hin zur Elternschaft geprägt. Bereits im Sommer 2015 kauft Daniel ein großes Familienauto, welches er vor seinen Freunden direkt in Verbindung mit der Kindesplanung beschreibt (vgl. Beobachtungsprotokoll 2, 2015). Die drei AkteurInnen planen den Einzug in ein gemeinsames Haus in Hamburg, wofür Daniel aktiv sucht und bereits Häuser besichtigt. Das Sorgen um ihre zukünftige gemeinsame Elternschaft konstituiert ständig ihre Beziehung und verschafft ihnen Kontrolle über die offene, unsichere Situation in dieser Schwebe- und Wartephase. Auch während der späteren Inseminationsphase und Schwangerschaft überwinden sowohl Verwandtschaft herstellende Treffen als auch die Kommunikation über Anrufe, Chat und Smartphone-Nachrichten die räumliche Distanz von Köln nach Hamburg.
Die Textnachrichten und die Kommunikation der beiden Frauen mit Daniel beinhalten regelmäßige Ultraschall-Bilder des Kindes nach der Insemination und bestätigen die Zugehörigkeit von Daniel als eingeweihte Person und als Elternteil. Das gemeinsame Sprechen von „unserem Würmchen“ (Protokoll der E-Kommunikation 16, 2017) bestätigt das Gefühl der sozialen Verbundenheit als auch der Affinität und sozialen Präsenz.
Intime Themen jedoch seien von Anfang an ein schambehafteter Konfliktpunkt innerhalb der Kommunikation gewesen, zu denen sie sich nur unter Alkoholeinfluss überwinden konnten. „Wo ich dann auch gesagt habe, wenn wir da nur besoffen drüber reden können, können wir es auch lassen. Das war nochmal ein Klickmoment“ (Daniel, Interviewtranskript 6, 2016). Die intime Kommunikation ist von Anfang an ausschlaggebend für den Erfolg bzw. das Scheitern der Elternkonstellation und gestaltet sich mit fortschreitender Planungsphase schwieriger. Während der Verzögerung der Insemination kommen vermehrt Irritationen auf und die Zeitplanung sowie die Entscheidungen während dieser Schwebephase verursachen Ambivalenzen und Spannungsverhältnisse zwischen Daniel und den Frauen. Daniel zeigt sich zunehmend verunsichert, ob die Frauen die Insemination überhaupt noch umsetzen wollten, fragt jedoch nicht nach. „Ich bin dann diskret, weil gerade so viel bei ihnen los ist“ (Daniel, Beobachtungsprotokoll 12, 2017). Gleichzeitig ist er jedoch frustriert darüber, dass nun „gefühlt schon zwei Jahre nichts passiert ist“ (Daniel, Beobachtungsprotokoll 12, 2017) und andere FreundInnen ihn bereits darauf ansprechen. „Man wartet jetzt eigentlich drauf so, wann geht es denn jetzt los. […] Also ich muss warten, mir bleibt nichts anderes übrig“ (Daniel, Interviewtranskript 6, August 2016). Deutlich wird in diesem Zitat, dass Daniel sich nun in einer passiven, wartenden Position befindet und sich von der initiierenden Handlungslogik innerhalb der Familienkommunikation ausgeschlossen fühlt. Daniel befindet sich im Spannungsfeld zwischen dem aktiven Planen wie den Hausbesichtigungen und dem Autokauf und dem schicksalsergebenen Empfangen von Entscheidungen der Frauen. Dabei entsteht eine gewisse Abgrenzung, bei der Daniel eine Absage der beiden Frauen mittlerweile einkalkuliert, dass “die beiden jetzt sagen würden, wir haben uns jemand anders gesucht oder doch nicht oder es geht nicht“ (Daniel, Interviewtranskript 6, 2016).
Mit der Entscheidung für ein Leben in Köln anstatt wie geplant in einem gemeinsamen Haus mit Daniel in Hamburg kommt das Frauenpaar schrittweise dem dualen Elternmodell immer näher. Nach der Fehlgeburt im März 2017 wird die Zweielternschaft in Stellas und Jennys Kommunikation als auch in ihrer Imagination immer präsenter. Bis im Herbst „sind wir zu dritt“ (Stella, Protokoll der E-Interviews 17, 2017), beschreibt Stella ihre Hoffnung auf eine weitere Schwangerschaft. Daniel, der zuvor in ihrem Sprechen immer mitgedacht und mitformuliert wurde, bleibt von da an unerwähnt. Kurz darauf grenzt auch Daniel sich völlig von der Familienplanung ab. Die Strategien der Sorge und der Familienzugehörigkeit lassen sich nicht über den langen Zeitraum des Wartens und der räumlichen Trennung sowie der ungleichen Verteilung der Frauen als entscheidungstragendes Paar und Daniel als Einzelperson aufrechterhalten. Die interaktiven und kommunikativen Tätigkeiten der Sorge zeigen sich im sozialen Verbinden während der Familiengründung als entscheidend, bedürfen im Zuge der Realisierung des Kinderwunsches jedoch einer starken Modifizierung, welche die Intimität der Dreielternschaft nicht tragen kann. Care-Praktiken im weiten Sinne der Verwandtschaftszugehörigkeit stellen das soziale Verbinden her und sind gleichzeitig entscheidend für den Prozess der Auflösung der sozialen Elternbindung. Somit ist das Scheitern dieser Dreielternschaft ein Scheitern der Care-Strategien.
Die Alltagspraxen des Caring bestätigen fortwährend die Familienzugehörigkeit zwischen den drei Eltern und sind entscheidend für den Erfolg oder das Scheitern des sozialen Verbindens in der Dreielternschaft. Die gezeigte Fürsorge von Vater Nick sowie die in beiden Familien identifizierten Alltagspraxen des Caring durch beispielsweise Verwandtschaft herstellende Treffen führen außerhalb rechtlich legitimierter Elternkonstellationen erst zur vollständigen Anerkennung der Eltern untereinander als auch im gesellschaftlichen Umfeld. Gleichzeitig führt das Wissen um genetische Verwandtschaftszugehörigkeit zu Erwartungen des Caring und Handlungen des sozialen Verbindens. Somit zeigt sich eine Dichotomie des Caring innerhalb der Familienbildung, in der einerseits Verwandtschaftsverbindungen zu sozialen Praxen des Caring führen und andererseits Care-Strategien erst die Verwandtschaftszugehörigkeit herstellen.
Tzvetan Todorov (1997) beschreibt die sich durch verbindende Care-Praktiken mit anderen „Dus“ einstellende Neu-Identifizierung des „Ichs“, wie ich sie im vorherigen Kapitel aufgezeigt habe. Diese Vorstellung weite ich auf subjektivierte Care-Praktiken des „Ichs“ dem „Ich“ zugewendet aus und untersuche inwiefern diese eine Neu-Identifizierung und Neu-Betrachtung des Selbst mit sich bringen. Wie werden der Körper und seine Substanzen innerhalb verschiedener Schritte der Familienherstellung gedeutet und verhandelt? Eine wichtige Rolle spielen hierbei materielle und körperliche Realitäten sowie die konkrete Umsetzung der Kindeszeugung. Dabei betrachte ich in diesem Kapitel beide Akteursfamilien gemeinsam, da sich viele Parallelen innerhalb der Körper-Aushandlungen der Familien identifizieren lassen.
Mit dem heutigen Wissensstand rechnen beide Frauenpaare selbstständig mit Hilfe eines Zyklus-Kalenders den genauen Eisprung und somit mögliche Inseminationstermine aus. Dies bedeutet für die Familien genaue Informierung, Arztbesuche, Zeitplanung, Beobachtung und Vorbereitung der eigenen Körper. Als die Frauenpaare beginnen, den Eisprungkalender zu führen und damit eine „Methodisierung und Zielorientierung des eigenen Zyklus“ (Knecht, Klotz, Polat & Beck, 2011) umzusetzen, beschreiben sie einen deutlichen psychischen Druck. Das Schwierige hierbei sei der sich wiederholende „Takt“ von Zuversicht und Misserfolg (Anita, Interviewtranskript 11, Dezember 2016).
„Die Zeit läuft einem ja doch so ein bisschen davon(,) gefühlt. Du lebst halt in diesem Zwei-Wochen-Rhythmus. Du wartest irgendwie (–) erst wartest du 14 Tage auf den Eisprung (,) hoffst, dass einer kommt. Dann inseminierst du und dann wartest du zwei Wochen lang hat es jetzt geklappt oder nicht (`) Und wenn es dann nicht geklappt hat, dann geht halt dieser ganze Trott von vorne los.” (Anita, Interviewtranskript 11, Dezember 2016)
Deutlich wird hier, wie der Takt den Lebensrhythmus bestimmt und welche Rolle Zeit dabei spielt. Anitas Frau, die versucht schwanger zu werden und diese Fehlschläge und Enttäuschungen körperlich deutlicher wahrnehme als Anita selbst, habe „sehr, sehr gelitten“ und bis heute teilweise mit in dieser Phase entstandenen Depressionen zu kämpfen (Anita, Interviewtranskript 11, Dezember 2016). Auch das andere Paar Jenny und Stella beschreiben starke Stimmungsschwankungen während der Familiengründungsphase, was Stella mit der „tickenden biologischen Uhr“ in Verbindung bringt (Stella, Beobachtungsprotokoll 3, 2016). Alter und die damit zugeschriebene reproduktive Fähigkeit des Körpers spielt bei beiden Frauenpaaren eine wichtige Rolle. Anita beschreibt nach einem ärztlichen Test ihrer Frau, dass die „Qualität der Eizelle eben einfach schlecht war auf Grund des Alters“ (Anita, Interviewtranskript 11, Dezember 2016). So wird die eigene Körpersubstanz neuen reproduktiven Qualitätskategorien zugeordnet. Der Bezug zum Körper verändert sich und der Körper wird auf seine Funktionalität zur Reproduktion betrachtet. Auch Jenny und Stella schlagen Daniel im Vorhinein der Insemination vor, einen Fruchtbarkeitstest zu machen. Daniel will die „Wahrscheinlichkeit […] fruchtbar“ zu sein erhöhen, indem er „kein[en] Alkohol“ trinken, nicht „rauchen“, „mehr Sport treiben“ und „alles, was irgendwie schlecht wäre für den Körper“ vermeiden wolle (Daniel, Interviewtranskript 6, 2016). Bei Anita, Renate und Nick hingegen bekommen die Frauen in der aufgesuchten Kinderwunschklinik die Aufforderung, ihren Lebensalltag nach dem Fortpflanzungswunsch und dem Eisprung zu richten. Die medizinische Kategorisierung und Qualitätsverortung des eigenen Körpers im Sinne der Fruchtbarkeit wird von den AkteurInnen in ihren Alltag inkorporiert. Eine intensive Zuwendung zum eigenen Körper und Pflegen dessen zur Steigerung der Reproduktionsfähigkeit wird umgesetzt. Hierbei handelt es sich um Selbsttechnologien, welche auf die Leistungssteigerung und Effektivität des Körpers im Hinblick auf die eigene Fortpflanzung ausgerichtet werden. Mit Rückbezug auf Foucault spricht Sabine Hess von einer „differenzierte[n], wissende[n] Selbstsorge und ein[em] hohe[n] kulturelle[n] (wie auch ökonomische[n]) Kapital, welches auf das effiziente Funktionieren des „gesunden“ Körpers ausgerichtet“ sei (Hess, 2007, S. 119). Dieses Kapital zeigt sich in den Aktivitäten der Paare, ihrer intensiven Wissensarbeit und in den hohen Kosten eines „mittleren Neuwagens“ für die Reproduktionsmedizin (Anita, Interviewtranskript 11, 2016) (vgl. 6.3. Umgehen des Fürsorge-Staates und Transnationalität). Die erforderte Subjektivierung und Verinnerlichung des reproduktionstechnologischen Wissens und dessen Umsetzung am eigenen reproduktiven Körper durch die AkteurInnen ist nach Sabine Hess ein „gouvernementaler Bumerang-Effekt“, denn der Körper würde eingenommen und auf ständige reproduktive Verbesserung hin kommodifiziert (Hess, 2007, S. 119). Deutlich wird dabei eine Umdeutung des Körpers und der Körpersubstanz in Folge der reproduktionstechnologischen Wissensarbeit. Somit kann der reproduktive Körper als Teil einer Wissensordnung von Verwandtschaft begriffen werden und gleichzeitig als entscheidendes Medium, an dem Care ausgeführt wird.
Die Kindeszeugung wird von Daniel, Jenny und Stella immer wieder neu benannt als „die Umsetzung“, „der erste Schritt“ oder „der praktische Vorgang“ (Daniel, Interviewtranskript 6, 2016; Jenny & Stella, Beobachtungsprotokoll 3, 2016). Daniel beschreibt die Vorgehensweise mechanisch als das Einführen von „Sperma [in] Spritze“ und als „nicht biologisch“ (Daniel, Interviewtranskript 6, 2016). Die Beschreibung und Wahrnehmung des körperlichen, nicht sexuellen Vorgangs ist meist untrennbar mit der normalisierten Vorstellung der natürlichen, von Daniel als biologisch benannten, Zeugung verbunden. In dieser Beschreibung findet auch eine gewisse Distanzierung von der eigenen Körpersubstanz statt. Anita dagegen beschreibt diese intime Zeugungssituation mit einem nicht sexuellen Partner zunächst als „lustig“ (Anita, Interviewtranskript 11, 2016).
„Es war halt auch so ein bisschen schambehaftet. Es war schon irgendwie komisch. Ich glaube für beide Seiten auch. […] Weil das ist manchmal echt irgendwie surreal, ja, da kommt irgendwie einer (h) Und es ist schon strange, wenn er dann irgendwann im Bad verschwindet und du stehst dann irgendwo im Wohnzimmer dedededede (-)” (Anita, Interviewtranskript 11, 2016)
Die Insemination ist von Schamgefühl und einer gleichzeitig betont zweckgebundenen Wahrnehmung der Handlung geprägt. Die von Bedeutungszuschreibung und Schamunterdrückung geprägte Umsetzung bedeutet für die Akteursfamilien intensive Wissensgenerierung, Kommunikations- und Zeitaufwand. Eine unangenehme Peinlichkeit wurde schon seit dem 19. Jahrhundert bei den ersten Anwendungen der von beiden Paaren genutzten Bechermethode beschrieben. Damals war diese Methode außerdem seltener erfolgreich, da der Zyklus der Frau noch zu wenig erforscht war (Benninghaus, 2005). Während der Heiminseminationsversuche über drei Jahre hinweg habe es seinen Zauber verloren, sei „eine Routine“ und „nervig“ geworden (Anita, Interviewtranskript 11, 2016). Somit findet durch die Routinisierung eine Normalisierung der vorher als aufregend und schambehaftet beschriebenen Zeugungssituation statt. Gleichzeitig stellt Anita sich aber bewusst einer Trivialisierung des Aktes entgegen, denn „irgendwelche Parkplatz-Aktionen finde [sie] nicht so prickelnd“ und bevorzuge trotz der geographischen Distanz die Umsetzung zu Hause (Anita, Interviewtranskript 11, 2016).Evaluationsmöglichkeiten und Testverfahren mit dem Ziel eines möglichst hohen Erfolges der Insemination, bringen neben einer Qualitätsbestimmung der eigenen Körpersubstanz auch direkte Handlungsfolgen im Sinne einer Marktlogik für die AkteurInnen mit sich. Nach jahrelanger erfolgloser Heiminsemination entscheiden sich Anita, Renate und Nick auf Grund der schlechten Qualität von Renates Eizellen für eine Eizellenspende durch Anita. Für dessen Umsetzung transportieren sie das Sperma von Nick im Auto zur Kinderwunschklinik im Ausland.
„Wir haben nämlich das Sperma unseres Spenders im Kryo-Behälter (lacht etwas) mitgenommen über die Grenze nach Holland (-) Weil ein Transport von der Samenbank nach Holland hätte irgendwie 400 Euro oder was gekostet (,) und die Leihgabe für diesen Kryo-Behälter irgendwie 80 Euro oder was. Dann haben wir gesagt, nehmen wir selber mit. War sehr lustig, wenn du dann so fährst und überlegst, mmh okay, was haben wir da eigentlich auf der Rückbank(`)“ (Anita, Interviewtranskript 11, 2016)
Der Samen als Körpersubstanz wird durch die Technologie und Transportmöglichkeit des Stickstofftanks von seiner Mobilität charakterisiert und über einen langen, von der Direktheit gelösten Zeitraum als Befruchtungsrohstoff genutzt. Der Samen wird aus seiner Verbundenheit mit dem Körper und den Organen gelöst und auf Grund der ökonomisch sinnvolleren Lösung selbst im Auto transportiert. Michi Knecht bezeichnet den Samen in solchen Vorgängen neuer Reproduktions- und Wissenstechnologien als „Bewirtschaftungsgrundlage“ (Knecht, 2010, S. 18).
Im Prozess der Insemination sowie der Vorbereitung dieser findet eine Distanzierung und veränderte Wahrnehmung von eigenen Körpersubstanzen wie Eizellen und Samen statt, die aus ihrer Körperlichkeit gelöst zu mobilen Befruchtungsrohstoffen werden. Dabei findet eine Umdeutung und Qualitätsbestimmung des Körpers hin zu einem reproduktiven Körper statt, was den Körper zu einem Ort kultureller Praktiken der Verwandtschaftsherstellung macht. Bei den AkteurInnen kann im Zuge der Reproduktionsgeschichte eine gesteigerte Sorge um den eigenen Körper und Arbeit am Körper innerhalb der Care-Praktiken des „Ichs“ dem „Ich“ zugewendet beobachtet werden. Doing Kinship ist im Hinblick auf Körperlichkeit von Technologien der Sorge um den eigenen Körper und dessen reproduktive Fähigkeiten geprägt.
John Bornemann (2001) beschreibt in seiner Studie zu Caring, dass rechtliche Festlegungen die offizielle Anerkennung von sozialen Verbindungen und damit die Ermöglichung oder Eingrenzung bestimmter Formen der Sorge und Affinität bedeute. Nachdem ich in den vergangenen Kapiteln Care-Praktiken als Selbsttechnologien und Legitimierung von Verwandtschaft aufgezeigt habe, betrachte ich in diesem Kapitel, in wieweit die Ausführung dieses Caring von staatlichen Regulierungstechnologien geformt und beeinflusst wird. Dabei ist entscheidend, wie die AkteurInnen mit Regulierungen des Fürsorge-Staates in Form von Care-Praktiken zwischen dem „sie“ als staatliche Form und dem „Ich“ umgehen (vgl. Todorov, 1997).
Die staatliche Fürsorgepflicht wird im Bereich der Familie mit der Sorge um den Schutz des Kindes beschrieben (KRK §3 (3) & §8, 2012). Die nicht in gesellschaftlicher und rechtlicher Ordnung festgeschriebene Familienform der AkteurInnen stellt Irritationen dar, welche Inklusion und Exklusion innerhalb institutionalisierter Familiennormen und staatlicher Fürsorge aufzeigen. Anitas Familie spürt einen Ausschluss der homosexuellen Personengruppe in der Kinderwunschklinik in Deutschland, bei der ihre Frau Renate zur Zyklusbeobachtung als lesbische Frau abgelehnt wird. Grund dafür ist, dass Kinderwunschkliniken in Deutschland auf Unterhalt verklagt werden können. Denn im Unterschied zur heterosexuellen Ehe ist die zweite Frau nicht automatisch rechtlicher Elternteil des in der lesbischen Lebenspartnerschaft oder Ehe geborenen Kindes. Bei nicht verheirateten heterosexuellen Paaren ist dies zwar ebenfalls der Fall, hier kann der Partner aber unterschreiben, dass er bei erfolgreicher Behandlung rechtlicher Vater wird (Familienanwältin Lünsmann, Beobachtungsprotokoll 9, 2016). Anita, Renate und Nick müssen auf Grund dieser Regulierung einen anderen Weg finden, um die Zyklus-Behandlung umsetzen zu können.
„Wir hatten dann unseren Spender sozusagen dabei, der eben seine Ausweisdaten hinterlegt hat und der in den Akten teilweise mit meiner Frau als Paar geführt wurde (.) Das hat die Sache dann manchmal ein bisschen vereinfacht […] Der erste Anruf war: `Ich lebe in einer lesbischen Beziehung und ich bräuchte Unterstützung´ (–) `Nein, das machen wir nicht´ (.) Dann hat sie also nochmal angerufen und hat gesagt, `ich habe Zyklus-Störungen und müsste da mal beobachtet werden und so weiter´ und dann hat sie halt einen Termin gekriegt (lächelt)“ (Anita, Interviewtranskript 11, 2016)
Die AkteurInnen treffen in ihren Entscheidungsoptionen auf starre, heteronormative und auf Zweielternschaft gezielte Familienvorstellungen. Nur durch Verschweigen oder Umdeuten der eigenen Familienkonstellation finden sie eine Umsetzungsmöglichkeit. So werden Wege und Strategien entwickelt, rechtliche Grauzonen als Chancen zu aktivieren, wozu eine intensive Wissensgenerierung um bioethische Standesregeln und eine ständige Anpassung an normative Muster notwendig ist. Die Komplexität dieser Wissensgenerierung um rechtliche Regulierungen zeigt sich auch in der Familiengründung von Stella und Jenny, welche diskutieren, ob Daniel für eine erfolgreiche Stiefkindadoption genannt werden sollte.
S: „Auf jeden Fall über´s Jugendamt, da hat man einen Ansprechpartner wegen Adoption (.) Oder nicht (`) J: Ich glaube nicht, dass die dann sagen: `Ja, sie können den leiblichen Vater geheim halten´ (-) Ich glaube nicht, dass die dir sowas erzählen werden.“ (Stella & Jenny, Interviewtranskript 4, 2016)
Im gesetzlichen Paradigma der heterosexuellen Elternschaft entwickeln die AkteurInnen situationsabhängige Kommunikationspolitiken, welche von Abwägen über Offenheit oder Verleugnung der eigenen Familienform gegenüber staatlichen Institutionen geprägt ist. Deutlich werden hierbei die Abhängigkeit von Expertenstrukturen sowie die Unsicherheit, welche Institutionen die Ziele der Stiefkindadoption unterstützen. Normative Familienvorstellungen, welche auf institutioneller Strukturebene zu finden sind, produzieren Ausschlüsse ihrer Familienform, obwohl die Stiefkindadoption bereits eine rechtlich legale Form der Elternschaft und Fürsorge durch die zweite Mutter darstellt. Deutlich wird hierbei die von Foucault (1998) beschriebene Filterung von einer Vielzahl von Familienmöglichkeiten zu einer begrenzten, normalisierten Familienform, welche als einzige in ihrer Familiengründung gefördert wird. Auch die langwierige Umsetzung der Stiefkindadoption thematisieren die AkteurInnen als Ungleichheit im Vergleich zu heterosexuellen Paaren.
„Bei dieser Adoption muss ich darlegen, dass ich für dieses Kind, das ja quasi so und so schon reingeboren ist in meinen Haushalt durch meine Partnerin (–) muss ich dann dem Amt darlegen, dass ich mich finanziell um das Kind kümmern kann. Dann wird geguckt, ob die Umgebung kindgerecht ist, obwohl es der eigene Haushalt ist. Das sollen sie mal bei heterosexuellen Paaren machen (–) Wenn jemand schwanger ist, da erstmal vorbei gehen, um zu gucken, ob das alles kindergerecht ist (`) Aber eben wenn es darum geht, dass zwei Lesben und zwei Schwule ein Kind haben wollen (.) Das finde ich eben, ist ein ziemlicher Einschnitt in die Persönlichkeit. Und das finde ich nicht schön.“ (Stella, Interviewtranskript 4, 2016)
Das gezwungene Offenlegen der Lebenssituation auf Grund der Fürsorge des Staates stellt für die AkteurInnen eine illegitime Einmischung und einen unangenehmen Eingriff in private Räume dar. Stella betont dabei die Ungleichheit, dass eine solche Prüfung nur bei einer bestimmten Familiengruppe durchgeführt wird, während bei heterosexuellen Paaren der Ehemann ohne Prüfung der Vaterschaft und der elterlichen Umgebung direkt rechtlicher Vater wird. Homosexuelle Eltern werden nach der von Stella beschriebenen Prüfung beurteilt, um das gemeinsame Sorgerecht zu erhalten, was eine Klassifizierung in gute oder schlechte Caretaker bedeutet. Staatliche Institutionen haben das Recht, das Caretaking einer Familie zu beurteilen bzw. zu unterbinden. Die Ungleichbehandlung gegenüber naturalisierten Familienformen bedeutet dabei, dass homosexuelle Paare sich zunächst als gute Caretaker beweisen müssen und ihre Fürsorgequalität zunächst angezweifelt wird. Dies stellt eine Diskriminierung auf Strukturebene dar, welche, wie Stefan Beck (2007) beschreibt, direkt auf die Handlungsweisen der Familien wirke. Eine solche staatliche Sorge um bioethische Fragen nach Fortpflanzung, Lebensbeginn sowie der genetischen und körperlichen Kontrolle bedeutet eine Regulation im Sinne der von Foucault (1985) beschriebenen Biomacht. Die Subjektivierung der Werte der Biomacht und die Erfahrungen struktureller Diskriminierung spiegeln sich eindeutig in den von mir beobachteten Entscheidungen und Handlungen der AkteurInnen wider. So entscheiden sich Stella und Jenny bei ihrer Bewerbung für ein Pflegekind kein ausländisches Kind aufzunehmen, um neben ihrer Familienform keinen weiteren Diskriminierungsgrund für das Kind zu liefern. Jenny und Stella wollen eine Intersektionalität von kin und race dicrimination vermeiden, sollte das Kind einen Migrationshintergrund haben. Sie denken die Wechselwirkung und Abhängigkeit verschiedener Diskriminierungen voraus, wie es das Intersektionalitäts- und später entwickelte Interdependenzkonzept beschreibt (Nestvogel, 2008). Somit sollte neben sex discrimination, race discrimination u.a. innerhalb dieses Interdependenzkonzeptes auch die bisher nicht aufgeführte kin discrimination hinzugefügt werden. Die beiden Akteursfamilien müssen ihre Form des Doing Kinship auf Grund von gesellschaftlichen und rechtlichen Normen und Ausgrenzungen ständig verhandeln und vertreten. Deutlich wird hierbei, dass Sorge nicht immer eine positiv besetzte Deutung hat, sondern in der staatlichen Fürsorge vielmehr Kontrolle, Eingriffe in die Privatsphäre und Exklusion mit sich bringen kann. Die staatlichen Regulierungen und Rahmenbedingungen für Familiengründungen bedeuten in ihrer Privilegierung einiger, normalisierter Familienformen den Ausschluss anderer. Dabei spielt es eine entscheidende Rolle, wessen elterliche Sorge als die eines guten Caretakers eingestuft und legitimiert wird.
Die oben aufgezeigten Exklusionen und rechtlichen Hürden haben Auswirkungen auf die Ausübung der elterlichen Sorge der AkteurInnen. Sich um ein Kind zu kümmern ist in Deutschland direkt an das Sorgerecht gebunden. Für die Analyse von Care und Care work beschreibt Jeannett Martin Notfälle und Ausnahmesituationen als wichtigen Betrachtungspunkt, da in diesen deutlich wird, wer seine Fürsorge wie ausleben kann (Martin, 2013). So zeige ich in diesem Kapitel durch die Analyse von Notfallsituationen in der Familie von Anita, Renate und Nick ihre Möglichkeiten und Einschränkungen des Caring auf. Familienanwältin Lünsmann beschreibt, dass das langwierige Verfahren der Stiefkindadoption bei lesbischen Paares zur Folge habe, dass das Kind für einen gewissen Zeitraum nicht richtig abgesichert sei (Familienanwältin Lünsmann, Beobachtungsprotokoll 9, 2016). Denn die zweite Mutter hat während des mehrere Monate andauernden Prozesses der Stiefkindadoption nicht die rechtliche Legitimation das Kind zu versorgen. Das Kind könnte trotz vorhandener sozialer Mutter rechtlich als Waise gelten, wenn der gebärenden Mutter etwas zustoßen würde. Dieser Gefahr ist Sohn Sven ausgesetzt, als Renate, wie bereits in Kapitel 4.2. „Nick: Care-Strategien zur Bestätigung von Verwandtschaft“ beschrieben, eine Schwangerschaftsvergiftung erleidet. Obwohl Anita sowohl genetische Mutter ist, als auch in einer Lebenspartnerschaft mit der gebärenden Mutter lebt, hat sie nicht das Recht, ihre elterliche Sorge auszuleben, da dieses rechtlich nur der gebärenden Mutter zusteht. Diese Situation zeigt auch die nicht geregelte rechtliche Situation der genetischen Mutter innerhalb einer interrelationalen Eizellenspende. Auch nach der Geburt von Sohn Sven und nachdem Renate die Schwangerschaftsvergiftung überstanden hat, kommt die rechtliche Unsicherheit von Mutter Anita während der ein Jahr andauernden Wartezeit der Stiefkindadoption zum Tragen. Mutter Anita kümmert sich Vollzeit um Sohn Sven und darf auf Grund der Lebenspartnerschaft mit Renate Elternzeit nehmen (BEEG §1 (1) 2., (3) 2., 2017). Im Alltag spielt die nicht vorhandene rechtliche Legitimation ihrer Elternschaft hierbei eine untergeordnete Rolle. Ihre rechtliche Einschränkung spürt Anita aber, als ihr Sohn wegen Atemnot vom Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht werden muss.
„Dann kamen auf der Fahrt so diese Gedanken: Was ist, wenn jetzt irgendwie was passiert (?) Also ich bin rechtlich nichts für dieses Kind. Ich habe kein Recht auf Auskunft. Ich habe kein Recht irgendwie bei ihm zu sein eigentlich (.) Also für mich ganz schrecklich. Und das ist erst vorbei seit diese Stiefkindadoption durch ist (.) Seit ich wirklich die Geburtsurkunde habe, wo draufsteht (-) ich bin seine Mutter auch rechtlich.“ (Anita, Interviewtranskript 11, 2016)
Anita hat in dieser Notfallsituation nicht die Legitimation, ihre elterliche Sorge auszuüben, da diese mit der rechtlichen Elternschaft verbunden ist. Das Kümmern um ihren Sohn würde ihr in dieser Krankheitssituation auf Grund ihrer nicht vorhandenen rechtlichen Elternschaft untersagt. Wenn ein Caretaker somit nicht die rechtliche Anerkennung hat, ist seine Fürsorge gefährdet. Anita beschreibt diese Situation als „Rechtsunsicherheitsraum“ und „extremen Schwebezustand“, der für sie erst nach der rechtlichen Umsetzung der Steifkindadoption beendet war (Anita, Interviewtranskript 11, 2016). Hierbei zeigt sich, dass Sorge und Recht, wie von John Borneman beschrieben, nicht auseinanderläufig sind, sondern letztendlich nicht different, da sie auch in ihren ethischen Überlegungen konvergent seien (Borneman, 2001). Die rechtliche Anerkennung nach der Stiefkindadoption stellt für Anita eine wichtige Ebene dar, um in der Gesellschaft die vollwertige Rolle als Elternteil annehmen zu können. Das Innehaben dieses Rechts produziert und formt die Möglichkeit des Kümmerns um Sohn Sven. John Borneman (2001) beschreibt, dass es nur wenigen Personen möglich sei, außerhalb der rechtlichen Anerkennung ihre vollständige gesellschaftliche Legitimation zu finden. Deshalb habe die rechtliche Legitimation eine so machtvolle Rolle mit weitgreifenden Auswirkungen auf Sorge-Praktiken und Performanz von Verwandtschaft, wie in diesen Extremsituationen der Familienschaffung zu beobachten ist.
Für die Eizellenspende finden Anita, Renate und Nick im Internet eine niederländische Kinderwunschklinik, die „explizit lesbische Paare“ aus anderen europäischen Ländern anwirbt, in denen Eizellenspende wie in Deutschland gesetzlich verboten ist (Anita, Interviewtranskript 11, 2016). Die Kinderwunschklinik nutzt gezielt ihren ethischen Standortvorteil in den Niederlanden und kommuniziert mit potentiellen KundInnen auf ihrer Website in drei Sprachen (vgl. Nij geertgen Kinderwunschzentrum, 2017). Innerhalb Europas formt sich mit zunehmendem reproduktionsmedizinischem Wissen ein weites Spektrum ethisch-rechtlicher Regulierungen (Beck, 2007). Reproduktionskliniken als transnationale Care-Institutionen handeln dabei als Global Player, die sich im Kontext der Regularien anderer Länder als tolerante Klinik für lesbische Paare platzieren. Über Care-Institutionen, welche mit dem in der Kulturanthropologie beschriebenen kommodifizierten Care labour einhergehen, hat sich ein transnationaler Wissens- und Handlungsraum gebildet, der auf die Umgehung und Überwindung national staatlicher Beschränkungen ausgerichtet ist. Die Akteursfamilie konnte sich durch das Informations- und Werbemedium Internet über Landesgrenzen und Gesetzgebungen hinweg Wissen aneignen, die Eizellenspende in Holland umsetzen und sich den in Deutschland vorhandenen Regulierungen entziehen. Dabei kann der von Stefan Beck (2007) beschriebene reproduktionsmedizinische Tourismus beobachtet werden, welcher die in Kapitel 6.1. beschriebene Biomacht, die in ihrer Regulierung auf ein definiertes staatliches Territorium bezogen ist (vgl. Foucault, 1985), unterwandert. Die Nutzung dieser überstaatlichen Reproduktionsmedizin geht bei den AkteurInnen mit der Nutzung spezifischer Ressourcen wie Internetkompetenz, Mehrsprachigkeit, Zeit sowie hohen Kosten einher, als auch mit der Entwicklung von Aushandlungsstrategien bei Arztbesuchen in Deutschland während der Schwangerschaft.
„Wir haben uns zum Beispiel auch in der Schwangerschaft […] gegen diese ganzen Untersuchungen zu Trisomie 21 entschieden, weil letztendlich immer mit falschen Werten gerechnet worden wäre (.) Also es wäre irgendwie Alter und oder selbst wenn sie mein Alter genommen hätten (h) aber Blutwerte von meiner Frau und so weiter (–) das hätte ja gar nicht gematched.“ (Anita, Interviewtranskript 11, 2016)
Deutlich wird hier, wie die Auswirkungen der Eizellenspende trotz des Verbotes in Deutschland auch lokale Praktiken von Kliniken und Institutionen betreffen. Innerstaatliche Moral- und Regulierungsstrukturen treffen somit auf transnational umgesetzte Reproduktionstechnologien. Über ihre reproduktive Mobilität emanzipieren sich die AkteurInnen in Teilen ihrer Reproduktionsgeschichte von der bioethischen Regulation und damit der Souveränität des Fürsorge-Staates.
Innerhalb des Diskurses um neue Familienformen bilden sich Neudefinitionen und Normalisierungen von Familienvorstellungen. Über einen „Arbeitskreis Abstammungsrecht“ wurden in der deutschen Politik neue Definitionen von Elternschaft formuliert, die über eine Tabelle mit verschiedenen Eltern-Konstellationen zum Ausdruck kommen (BMJV, 2017). Neue Lösungsvorschläge werden aufgeführt, wie „ein Samenspenderregister und ein Mitsorgerecht für Stiefeltern“ (Der Spiegel 27/2016, S.5) und ein „Ausweis elterlicher Mitversorgung“ (Der Spiegel 32/2015, S. 17). Die Grünen schlagen vor, eine genaue Vereinbarung „vor der Schwangerschaft [zu treffen], wer neben der Mutter die Elternverantwortung übernimmt“ (Süddeutsche Zeitung 175/2016, S. 2), wie es in Kanada möglich ist (vgl. Reuß, 2014). Trotz dieser politischen Versuche, die Gesetzgebung den neuen Familienformen anzupassen, seien vor allem Gerichte „Ton angebend“ (Der Spiegel 32/2015, S. 15), da sie in realen Fällen die Entscheidungen treffen und sich dabei oft am internationalen Recht orientieren, bei welchem „das deutsche Abstammungsrecht nur schwer Schritt hält“ (Der Spiegel 27/2016, S. 59). Die AkteurInnen selbst betonen daher die Bedeutsamkeit ihrer eigenen Teilnahme an diesem gesellschaftlichen Diskurs und der Diskussion transnationaler Gesetzesmöglichkeiten. Nach der Geburt ihres Sohnes Sven ließen Anita, Renate und Nick sich in einer „37 Grad“-Dokumentation für das ZDF begleiten und legten die Schwierigkeiten ihrer Familiengründung und der Verrechtlichung offen.
„Eigentlich wäre für uns das britische Modell der Dreielternschaft perfekt gewesen (.) So ist es jetzt so, dass einer von uns Dreien außen vor sein muss. Der Realität entspricht es aber nicht. […] Das ist ein Ansporn gewesen vor die Kamera zu gehen (-) einfach weil da was passieren muss (.) Und das schaffst du nur, indem du an die Öffentlichkeit gehst (-)“ (Anita, Interviewtranskript 11, 2016)
Anita, Renate und Nick werden somit selbst SprecherInnen innerhalb dieses Diskurses, in welchem der moralische und rechtliche Stellenwert neuer Familienformen diskutiert wird. Anita beschreibt mediale Transparenz und die öffentliche Sichtbarkeit ihrer Familie als erforderliches Mittel für einen Normalisierungsprozess hin zu einer anerkannten Familienform. Beck et al. sprechen hierbei von „öffentlicher Elternschaft“ mit dem Ziel, Normalisierung und gesellschaftliche Anerkennung ihrer Familienkonstellation zu erzeugen (Beck et al., 2007, S. 17). Die eigene mediale Repräsentation und die Bereitschaft, an meiner Forschung teilzunehmen, sollen ein breiteres Wissen in der Öffentlichkeit schaffen und somit eine Neu-Ordnung ermöglichen. Anita, Renate und Nick wurden so Teil neuer Expertensysteme, in denen Lösungsvorschläge orientiert an ausländischen Modellen diskutiert werden. Dabei betonen sie ihre solidarische Haltung gegenüber zukünftigen Familien in ihrer Familiengründung, mit welchen sie sich über ihre Leitung der „Initiative lesbischer und schwuler Eltern“ in Hamburg austauschen (vgl. ILSE Hamburg, 2017). Sie wurden somit zu NetzwerkerInnen im Bereich Verwandtschaft, die regelmäßige Informationsveranstaltungen mit FamilienanwältInnen sowie Regenbogenfamilientage organisieren, um „anderen Paaren wirklich Mut [zu] machen, […] die Hoffnung halt einfach nicht auf[zu]geben“(Anita, Interviewtranskript 11, 2016). Sie stellen ein Online-Portal mit wichtigen AnsprechpartnerInnen und Informationen zusammen, um die Wissensgenerierung für zukünftige Eltern zu erleichtern. Knecht et al. sprechen von sich neu formenden „biosozialen Kollektiven“, die neue Normative in der Gesellschaft anstreben und somit Normalisierungsarbeit leisten (Knecht et al., 2011, S.46).
Ein diskursanalytischer Ansatz innerhalb meiner Forschung blickt neben der Konsequenzen der gesellschaftlichen Ordnungen für die AkteurInnen auch auf deren Modifizierung. Die AkteurInnen gehen nun selbst „ordnungsstiftend“ vor, was nach Foucault eine Umstrukturierung der bestehenden Ordnungen ermögliche (Eggmann, 2013, S. 75). So werden Normalität und Natürliches in der Familienvorstellung neu repräsentiert und verhandelt. Bei der Geburtstagsfeier von Sohn Sven sagt Anitas Mutter, sie habe Anitas Familiengründung zunächst als „Eingriff in die Natur“ empfunden (Anita, Beobachtungsprotokoll 14, 2017). Nicks Mutter hingegen erklärt Bekannten, „Leute, ihr müsst umdenken. Wir gehen weiter, unsere Gesellschaft entwickelt sich weiter“ (Anita, Beobachtungsprotokoll 14, 2017). Somit finden eine reflexive Hinterfragung normativer Verwandtschaftsordnungen und eine allmähliche Verschiebung von im Doing Kinship verdeutlichten Konzepten von Kultur und Natur statt. Über die Betrachtung der von Knecht et al. (2011) beschriebenen kollaborativen Selbstpräsentationen, wie sie in Anitas, Renates und Nicks lesbisch schwulem Verwandtschaftsnetzwerk stattfinden, können dabei entstandene Neudeutungen der Verwandtschaftsvorstellungen identifiziert werden. Bei der Christopher Street Parade 2016 in Hamburg nimmt die „Initiative lesbisch schwuler Eltern“ mit einer Eisenbahn voll Familien mit Kindern teil.
Die Familiendarstellung von Anita, Renate und Sohn Sven, welche ein T-Shirt mit der Aufschrift „Love makes a family“ tragen, beinhaltet eine Familiendefinition, in welcher Affinität und gegenseitige Fürsorge im Vordergrund stehen (Beobachtungsprotokoll 8, 2016). Diese von den AkteurInnen und anderen WissensarbeiterInnen mit Vorbildfunktion entwickelten Praxisformen entwickeln und verfestigen sich allmählich und werden strukturbildend. Begriffe wie Liebe, Affinität und Fürsorge werden zur Normalisierung ihrer Familienform und zur Produktion rechtlich und sozial anerkannter Eltern genutzt.
Um trotz struktureller kin discrimination ihre Familienherstellung umsetzen zu können, entwickeln die Familien Strategien der Um- und Neudeutung sowie der Umgehung bioethischer Regulierungen. Ein Verwandtschaft gestaltender Raum mit neuen biosozialen Kollektiven und Care-Institutionen entsteht, welcher sich über nationalstaatliche Grenzen hinweg strukturiert. Die rechtliche Festlegung der elterlichen Sorge zeigt sich jedoch als entscheidend für Möglichkeiten und Grenzen des Caring, welche eng an das Sorgerecht geknüpft sind.
Sorge stellt in der Herstellung neuer Familienformen eine entscheidende Konstante dar, über welche sowohl Legitimierung und Selbstformung als auch Exklusion geschaffen wird. Innerhalb des sozialen Verbindens der AkteurInnen produziert und bestätigt Caring ihre Verwandtschaft und geht gleichzeitig als Erwartung mit der Verwandtschaftsbindung einher. Die elterliche Sorge ist dabei ein übergreifendes Prinzip, welches bei Abwesenheit einer rechtlichen Anerkennung, wie im Falle des Vaters Nick, Elternschaft herstellt und legitimiert. Die soziale Anerkennung einer Person als vollwertiges Elternteil ist dabei von Care-Praktiken wie Verwandtschaft herstellenden Treffen und Praktiken des sozialen Verbindens abhängig. Materielle Realitäten der konkreten Umsetzung der Kindeszeugung innerhalb der Dreielternschaft sind ebenfalls von Sorge-Strategien und Technologien des Selbst geprägt. Damit geht eine veränderte Wahrnehmung und Umdeutung des Körpers hinsichtlich seiner reproduktiven Qualität einher. Die Gestaltung dieser Sorge-Praktiken bewegt sich bei den Akteursfamilien jedoch in unsicherem Raum, in dem sie ihre Familiengründung mit wenig rechtlicher und gesellschaftlicher Handlungsstabilität ausführen müssen. Regulierungstechnologien und Ausschlüsse des Fürsorge-Staates stellen die AkteurInnen vor Deutungsentscheidungen ihrer Familienform, in welchen sie ihre Narrative über die eigene Familienkonstellation immer wieder anpassen. Nicht vorhandene rechtliche Legitimierungen schränken die elterliche Sorge deutlich ein und unterbinden sie teilweise, wie es in Ausnahmesituationen deutlich wird. In Being cared for zeigt sich die rechtliche Anerkennung der elterlichen Sorge somit als Voraussetzung der Möglichkeit für Care-Aktivitäten. Die in den vorangehenden Kapiteln beschriebenen Praktiken des Caring for someone und Caring about oneself basieren somit auf dem Recht, diese ausführen zu dürfen. Hier zeigt sich, dass das Konzept der Sorge als „both practice and right“ (Borneman, 2001, S.43) entscheidend die Familienherstellung der beiden Akteursfamilien prägt.
In den Ausschlusserfahrungen der Akteursfamilien durch rechtliche Paradigmen der homosexuellen Zweielternschaft und die damit verbundenen normalisierten, institutionalisierten Verwandtschaftsvorstellungen zeigen sich die Auswirkungen normalisierter Ordnungen auf den Handlungsspielraum und die Selbstwahrnehmung der Individuen. Die verschiedenen Formen des Caring als Verbinden des „Ichs“ mit sich selbst, anderen oder der staatlichen Form veranlassen somit eine Neu-Identifizierung und Umdeutung des eigenen „Ichs“. Caring zeigt sich somit entscheidend für die Wahrnehmung und Erfahrungskonstitution innerhalb unterschiedlichster Situationen der Familienherstellung. Auf Grund einer solchen menschlichen Erfahrungsebene der Sorge plädiert Borneman zur Inklusion des Konzeptes der Sorge in kulturtheoretische Betrachtungen des Faches. In meiner Forschung zeigt sich, dass Care über das private, beziehungsstiftende Kümmern hinausgeht und vielmehr von der institutionalisierten Festlegung der elterlichen Sorge in Verbindung mit der rechtlichen Elternschaft geprägt ist. Damit lässt sich Care in einem Spannungsfeld zwischen Staatlichem und Privatem positionieren, worin die Analysestärke des Konzeptes der Sorge liegt. Über Care können bedeutende Ordnungen und gesellschaftliche Zusammenhänge in der Verbindung institutioneller als auch familiärer Bereiche betrachtet werden, wie ich es für den Bereich der Dreielternschaft umgesetzt habe. Das Konzept der Sorge ermöglicht eine von Tatjana Thelen und Erdmute Alber (2018) geforderte Rückkoppelung der häufig getrennt voneinander betrachteten kulturanthropologischen Forschungsfelder der Verwandtschaft und der staatlichen Macht. Dem von Foucault (1998) geprägten diskursanalytischen Forschungszugang der Irritation der Ordnung folgend, kann mein Aufzeigen von Problematisierungen und normalisierten Filterungen innerhalb der Familiendefinition auch eine gesellschaftliche Neu-Ordnung ermöglichen. Somit schließe ich mich John Bornemans (2001) Vorschlag an, anstatt Kategorien wie Gender, Sexualität oder Machtverhältnissen das Konzept der Sorge zum Hauptanalysegegenstand kulturanthropologischer Verwandtschaftsforschungen zu machen. Dadurch ergibt sich die Chance, dass im Familienrecht anstatt auf solche Kategorisierungen auf die in der Realität bestehenden, tatsächlich Sorge ausführenden Verbindungen geblickt wird.